Philharmonischer Chor Kiel

Volkszeitung, 14.11.1962

Ein italienisches Requiem

Zur Aufführung der Totenmesse von Verdi im 3. Kieler VdM-Konzert

Gewiß: der Text ist lateinisch. Die musikalische Sprache dieses Requiems aber, sein Geist, ist italienisch bis in die letzte Faser. Da gibt es keine grüblerische Meditation über die letzten Dinge, keine Refle­xion, keine Mystik, keine Metaphysik. Alles ist lebendige Handlung, sinnlich faßbare Wirklichkeit, dem italienischen Volk aus der Seele geschrieben. Mit farbenprächtiger Dramatik, als gewaltiges Natur-Ereignis, fällt der Tag des Gerichts über die heulende Masse der Menschheit her, herzbewegend bitten die Bestraften den zürnenden Vater um Gnade — und auf Flügeln des Belcanto trägt das Banner des heiligen Michael ihre Seelen in einen Himmel voll schwelgerischen Wohllauts, da Gott aufs irdisch-fröhlichste gepriesen wird. Das ganze, architektonisch genial gebaute Werk ist durchtränkt von einer erleuch­teten, geistvollen Naivität, wie sie nur aus italienischem Wesen wirksam werden kann.

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Die Aufführung machte das sehr deutlich. Nichts „Norddeutsches“ beschwerte sie. Im Gegenteil: es wurde mit einer Italienità musiziert, die man nicht erwartet hatte; mit Klarheit, Leidenschaft und Grazie, mit elementarer dramatischer Kraft und sinnlich blühendem Glanz, mit perfekt nach außen projizierter Innerlichkeit. Niklaus Aeschbacher hatte sein großes Instrument mit aller Konzentration in der Hand, entließ es keinen Augenblick aus dem Spannungsbogen dichtester Intensität, entwickelte Tempo und Dynamik in jeder Einzelheit sinnvoll und inspiriert aus dem Organismus des Werkes. — In bester Form präsentierte sich der sauber artikulierende, von Christian Süß präzis einstudierte Städtische Chor, der im ganzen voller, reiner, klingender geworden ist und dem wunderbar abgestufte dynamische Schattie­rungen gelangen, Ausdrucksmomente, die von vitaler Expressivität bis zu zartestem Expressivo reichten. Auch das Orchester zeigte sich in allen Gruppen außerordentlich gut disponiert, bestach besonders in den kammermusikalischen Abschnitten durch behutsame klangliche Differenzierung.

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Ja — und nun ist wohl eine Laudatio für die Solisten fällig. Ein dem Charakter dieses Werkes so vollendet entsprechendes Quartett (bis auf den Baß sozusagen „hauseigen“) zu finden, ist ein besonderer Glücksfall. Notabene für eine Stadt wie Kiel, für die immerhin begrenz­ten Mittel, die dem VdM zur Verfügung stehen. Diese Partien müssen von Opernsängern interprätiert werden; der „absolute“ Stil speziali­sierter Oratorien-Vokalisten wird ihrer Konzeption niemals gerecht. (Man braucht nur einmal Helmut Krebs in der Tenor-Partie gehört zu haben, um das bestätigt zu finden.) Sicher: Stefano Mata übertrieb ein wenig in umgekehrter Richtung, sang allzu unbekümmert großen italienischen Opern-Stil. Aber wie schön, wie strahlend, nahezu frei von technischen Schwierigkeiten, kam seine Höhe, wie edel führte er die schwingende Kantilene des „Hostias“ an. Louise Pearl hatte einige Mühe sich einzusingen, entfaltete aber dann die ganze Wärme und Leuchtkraft ihres voluminösen Mezzosoprans. Hervorragend in Stil und Ausdruck der (umfangreichsten) Sopran-Partie: Leonore Kirschstein. Immer wieder bewundernswert ihre subtile Ansatz-Tech­nik (sed signifer sanctus Michael ...), ihre reine, vollendet kultivierte „Bogenführung“ in der Kantilene. Nicht ganz ausgeglichen schien diesmal lediglich die extreme Höhe im forte, auch zeigte sich zuweilen eine leichte Neigung zu detonieren. Erlesenes Format bewies schließ­lich der kurzfristig eingesprungene Gast von den Städtischen Bühnen Frankfurt, Gunter Morbach, dessen nobler, in allen Lagen kraftvoll geschmeidiger Baß feinster dynamischer Nuancierung fähig ist und der die Partie geistig überlegen, mit bezwingender künstlerischer Ein­dringlichkeit gestaltete.

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Das Publikum zeigte sich unsicher in der Reaktion. Vernünftige wagten einen Ansatz von Applaus. Er wäre legitim gewesen; denn erstens war dies eine konzertmäßige Aufführung und zweitens steht „ergriffenes Schweigen“ (das denn auch nicht zustande kam) diesem ganz diesseitig schönen Werk mit seinen opernhaften Akzenten auch gar nicht an. Eine halbe Minute Stille, um dem letzten Akkord nach­zuhorchen — und dann rauschender Beifall. Das wäre das Richtige gewesen. Mögen ihn Dirigent und Ensemble nachträglich von mir akzeptieren. S. M.

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Siehe auch: -ün

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