Philharmonischer Chor Kiel

Volkszeitung, 16.05.1963

Das böhmische Stabat Mater

Zur Aufführung von Antonin Dvoraks Kantate in Flensburg

In doppelter Hinsicht war das letzte Flensburger Sinfoniekonzert der Saison 1962/63 interessant: Einmal hatte man mit Antonin Dvoraks Stabat Mater zu einem Werk gegriffen, das nicht zu jenen acht odedr zehn Standard-Oratorien der deutschen Konzertpro­gramme zählt, die man bis zum Überdruß immer wieder hört, und zum anderen wurde mit dieser Aufführung eine vielversprechende künst­lerische Gemeinschaftsleistung zweier Städte, oder genauer, der Chorvereinigungen zweier Städte, eingeleitet. Die städtischen Chöre Flensburg und Kiel, verstärkt durch Mitglieder des Chors der Kieler Oper (Einstudierung: Christian Süß und Josef Beischer) sangen nämlich gemeinsam an diesem Abend. Für Flensburg sind weitere gemeinsame Einstudierungen bereits vorgesehen. Sollte der überaus große künstlerische Ertrag des Abends, der das Unternehmen glän­zend rechtfertigte, nun nicht auch auf die Landeshauptstadt zurück­wirken? Präziser gefragt: Wird jetzt der Kieler VdM das bereits erar­beitete (hier seit Menschengedenken nicht mehr gespielte) Werk auch in seine Abonnementsreihe aufnehmen und dem Kieler Publikum präsentieren? Es wäre unverständlich, geschähe das nicht.

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Dvoraks Stabat Mater, 1876 komponiert, eine groß angelegte, anderthalbstündige Kantate für Chor, vier Solostimmen und Orchester, ist vorwiegend lyrisch, kontemplativ gerichtet. Der Duktus des Sinfo­nikers Dvorak findet sich auch hier: Melodisch voll aufblühende Streicherelegien, verhangene Bläserakkorde, zarte, aber bestimmte Rhythmik und nur gelegentlich machtvolle Zuspitzung ins Dramatische (wie im Chor „Tui Nati vulnerati“). Des Meisters Tonsprache in diesem Werk zeigt keine ausgesprochen inbrünstig-religiösen oder gar kon­fessionellen Züge — wenn ein prominenter Musikschriftsteller aus der Musik ein „Bekenntnis des hussitischen Patrioten“ vernommen haben will, dann hat er wohl mehr aus dem Werk herausgehört als vom Komponisten hineingelegt worden ist —; der Agnostiker Dvorak viel­mehr trifft genau jenen Grundzug „humanistischer Kirchenmusik“ des 19. Jahrhunderts, die „Gott und Volk als Lebensquelle“ hat, „Theater und Kirche“ zugleich ist — wie Franz List in seinem bekannten prophe­tischen Essay „Über zukünftige Kirchenmusik“ (1834) andeutete. Es ist eine gut sangbare, leicht eingehende, gefühlvolle, aber in keinem Takt seicht oder süß werdende Musik, die der tschechische Meister hier auf die berühmte Sequenz des Jacoponus da Todi geschrieben hat.

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Über die Flensburger Aufführung, die mit begeistertem, langem Beifall aufgenommen wurde, ist nur das Beste zu berichten. Heinrich Steiner hatte die rechte Einstellung zu der Kantate gefunden. Er beließ der Musik ihren weit ausschwingenden Atem, ihren warmen, vollen Klang und modifizierte agogisch und dynamisch prachtvoll. Sehr gut das Nordmark-Sinfonieorchester (bewundernswert das Blech!), gut auch die Solisten. Die Japanerin Yasko Nagata sang die Alt-Partie mit nicht allzu großer, aber ungemein ausdrucksvoller, beseelter Stimme, und Claus Ocker gab dem „Fac, ut ardeat“ mächtige dunkle Baßtöne. Edith Brodersens Sopran klang in der Mittellage und Tiefe leicht tremoloverschleiert, schwang sich in der Höhe aber zu strahlend reinen Tönen empor, und der Tenor Alan Richards bestach durch eine etwas flache, aber schön timbrierte, kultivierte Stimme. Den Haupt­an­teil an dem hohen Niveau der Aufführung aber trägt der Chor: zwei, drei winzige Unebenheiten beiseite gelassen, zeigte er sich ungemein reaktionssicher und gut studiert, im Klang wirkte er sehr homogen und füllig in allen Registern. Man hat den Städtischen Chor Kiel — der ja wohl zahlenmäßig den größeren Teil des Chores stellte — in seiner Heimatstadt seit langem nicht so vollendet gehört. P. D.

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Siehe auch: Dr. Wilhelm Hambach

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