Philharmonischer Chor Kiel

Flensburger Tageblatt, 20.11.1964

Mit der Neunten an der Alster

Heinrich Steiner mit den Flensburger Philharmonikern in der ausverkauften Musikhalle

Am Dienstag überschritten die Flensburger Philharmoniker, an der Spitze ihr „General“ Heinrich Steiner, den norddeutschen Kultur-Rubikon: den Nord-Ostsee-Kanal. Ihr Ziel war Hamburg, die musische Hochburg, in der ein künstlerischer Auftritt weniger auf eine robuste Eroberung im Sturm aus sein kann als auf eine sympathische Auf­nah­me. Man hatte den Hanseaten eine glanzvolle Aufführung verspro­chen: die Neunte Sinfonie von Beethoven.

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Den Effekt vorwegverkündet: Der große Saal der 1800 Besucher fassenden Musikhalle war ausverkauft. Und als die geistig größte aller je komponierten Sinfonien zu Ende war, erhob sich in den beiden Rän­gen ringsum das Publikum und spendete jenen intensiven, beständi­gen und mit Bravorufen gespickten Beifall, wie man ihn an der kühle­ren Förde und Schlei so nur aus dem Rundfunk kennt, wenn große Leute auftreten. Auch brach das Publikum im eigentlichen Saal nicht stürmisch aus zu ellbogenspitzen Duells an der Garderobe wie in der Heimat, der teuren, sondern es harrte gesittet aus und dankte viele Minuten lang. Es hatte Grund dazu. Denn die Aufführung, die an dieser Stelle sicher bei vielen die Vergleichslust zu manchen anderen Interpretationen weckte, war von großer, imponierender Art. Sie hatte vor allem im effektvollen Schlußchor feierliche Größe, die das Herz erreichte. Insgesamt wäre sie wohl reif gewesen für eine Radiosen­dung, aber dazu kommt es aus zwar erforschlichen, uns aber nicht einleuchtenden Gründen nie. (Vielleicht versucht man, zumal doch die Parole vom Kulturaustausch nicht nur Geschwätz zu festlichen Tagen sein soll, einmal mit dem dänischen Rundfunk ins Gespräch zu kommen.)

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Heinrich Steiner nahm sich für die Wiedergabe in der Hamburger Musikhalle neun Minuten mehr Zeit als vor einem Jahr im Flensburger Deutschen Haus. Da trat nun in seiner ganzen Fülle zutage, was damals zum Teil ausblieb; die beiden ersten Sätze hätten noch ein klein wenig langsamer genommen werden können. Doch wie anders stand jetzt das Kopfmotiv da als Kernformel fürs Ganze, als kantia­nischer Gedanke, feierlich proklamiert, würdevoll, gemessen! Einige Schwankungen bei den Blechbläsern wird an solcher Stelle besonders geschärfte Kritik wahrnehmen, ferner den etwas zu stumpfen Klang der Violinen, die auch fürs Staccato noch etwas mehr Bogenstrich wagen dürfen. Im dritten Satz aber war das Vollkommene nah. Ergrei­fend, bezwingend begab sich die große Melodie auf die Wanderschaft durch die Partitur, vom Dirigenten väterlich sicher gelenkt, von jedem Musiker als eigene Herzenssache vorgetragen. Makellos spielten die Violoncelli und Kontrabässe ihr grandioses Rezitativ zur triumphalen Apotheose der Freude. Das war erarbeitet, bis in die Nuance begriffen und überzeugend gestaltet.

Zu einem Höhepunkt von erhabener Schönheit führte Heinrich Stei­ner die Schiller-Zeile „Und der Cherub steht vor Gott“. Solch eindring­lichen Chorgesang vernimmt man im Konzertsaal, wenn man Glück hat, alle Schaltjahre einmal. Daß eine lange Pause nach einer langen Fermate auch noch Musik sein kann, erfuhr man gleich hinterher. Da war wohl jeder in der akustisch empfindlichen Halle gepackt. DemChor gebührt Lob ohne Vorbehalt, das sich 140 Damen und Herren der Städtischen Chöre Kiel und Flensburg teilen dürfen. Wo blieben die Schwierigkeiten der hochgetriebenen Partitur? Die Soprane kamen mit einer Unmittelbarkeit und Kraft, als hätten sie noch eine große Terz in Reserve. Satt klangen die Altstimmen, blank die Tenöre, fundiert die Bässe, ein dem anderen wirklich harmonische Ergänzung.

Es waren keine potentiellen Stars, die als Solisten mitwirkten. Mit dem Bremer Bassisten Claus Ocker, der sein Rezitativ wie eine Beschwörungsformel voranstellte, angenehmere Töne anzustimmen und freudenvollere, wetteiferten drei Kräfte der Flensburger Oper: Edith Brodersen ließ das Licht ihres Soprans strahlen, Carole Rosen setzte ihre auch in der Tiefe farbige Altstimme ein, und Robert Bennet, tags zuvor noch sehr indisponiert, sang makellos den Tenorpart: es drängte sich nicht virtuos in den Vordergrund, sondern hielt sich bescheiden an seinen werkdienlichen Auftrag. Der Kontakt zum Chor und zum Orchester war nahtlos. Sie alle bewiesen, daß es nördlich der Hansestadt ein aktives musikalisches Hinterland gibt.

Dr. Wilhelm Hambach

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Siehe auch z.r.

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