Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 11.12.1968

Der Brahms-Abend

Kieler Sinfoniekonzert

Drei Werke von Johannes Brahms, darunter die selten aufgeführte Altrhapsodie, — und leere Plätze im Schloß. Was absolut krisenfest ausgesehen hatte, erwies sich am Abend des vierten Kieler Sinfonie­konzertes als ungedeckter Wechsel. Der VdM wird mehr als sonst zulegen müssen. Läßt die Neigung zu romantischer Musik nach, oder widerspricht ein Programm, das nur einem einzigen Komponisten gewidmet ist, den Konsumgewohnheiten? Gleichviel, wie diese Frage zu beantworten ist, der musikalische Rang des Konzerts bleibt davon unberührt: Es gehört, bis jetzt, zu den besten der Saison in Kiel.

Vorzüglich die „Variationen über ein Thema von Haydn“, subtil erarbeitet die zweite Sinfonie. Hier wie dort eine konzentrierte, alle Verästelungen der Partitur beachtende Darstellung, schön ausge­leuchteter Orchesterklang, exaktes Erfassen der Satzcharaktere. Das letzte ließ sich besonders gut an den Variationen beobachten, deren jede ihre Eigenart mit bewundernswerter Prägnanz entfaltete und so den Blick für die Kunst der Verwandlung in der Musik schärfte.

Wie wenig selbstverständlich solche Qualitäten sind, würde sich leicht aus einem Vergleich mit der Leistung eines Gastorchesters er­geben, das vor wenigen Wochen im Schloß Brahms‘ Zweite aufführte. Was damals fast ganz fehlte, Durchlässigkeit für den Anteil der Holz­bläser am sinfonischen Geschehen, geschmeidig nuancierter Strei­cherklang, hier war es vorhanden. Gerhard Mandl und das Kieler Orchester setzten sich selbst einen Maßstab.

Problematisch dagegen schien die „Rhapsodie für Alt-Solo und Männerchor“, ein Werk, das wohl nicht ganz zufällig in den letzten Dezennien ins Hintertreffen geraten ist. Goethes Gedicht „Harzreise im Winter“, das den erregten Hymnenstil der frühen Jahre in eine besonnenere Haltung der Überschau und der Daseinsdeutung hin­überführt, wird Brahms zum Gefäß persönlicher schmerzlicher Erfah­rung. Exakt im literarischen Sinn des Titels „Rhapsodie“ (Vortrag eines Bruchstücks) bricht er drei Strophen der Hymne heraus, überträgt die beiden ersten der arios geführten Altstimme allein und fügt bei der letzten den Männerchor hinzu.

Goethe ist weit entfernt. Was sich dem Hörer mitteilt, ist tiefe Depression, Klage und Gebet, dies in einer Weise, die sehr stark dem Geschmack des Bürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­derts verhaftet bleibt. Mehr als andere Vokalwerke von Brahms — wie etwa das „Deutsche Requiem“ dessen religiöser Gehalt biographische Anlässe nebensächlich erscheinen läßt —, rückt die Rhapsodie in eine historische Distanz, die schwer zu überbrücken ist. Selbst die beste Interpretation wird die Spuren bedrückenden Sentiments nicht tilgen können, die Brahms dieser Komposition mitgab.

Hildegard Rütgers sang die Altpartie mit großer dunkeltimbrierter Stimme, sehr genau nachempfindend, aber dennoch zurückhaltend im gefühlsbetonten Ausdruck. Vorbildlich fügten sich die Sänger des Städtischen Chors und des Nikolai-Chors ins schattenreiche Klangbild ein, schufen dessen Hintergrund, Melancholie in leisen, weichen Tönen. Das Orchester unter Mandl trug die fahlen Farben dezent auf. Trotzdem — Brahms in Tränen. Zumindest ein irritierenter Anblick. R. G.

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