Volkszeitung, 16.03.1966
Verdis Messa da Requiem
Zur Aufführung im 7. Kieler Sinfoniekonzert — Am Pult: Gerhard Mandl
Gewiß: der Text ist lateinisch, gebunden an uralte Liturgie. Die musikalische Sprache dieses Requiems aber, sein Geist, ist italienisch bis in die letzte Faser. Da gibt es keine grüblerische Meditation über die letzten Dinge, keine Reflexion, keine Mystik, keine Metaphysik. Alles ist lebendige Handlung, sinnlich faßbare Wirklichkeit. Mit elementarer Dramatik, als gewaltiges Naturereignis fällt der Tag des Gerichts über die heulende Menschheit her, herzbewegend bitten die Bestraften den zürnenden Vater um Gnade — und auf Flügeln des Belcanto trägt das Banner des heiligen Michael ihre Seelen in einen Himmel voll schwelgerischen Wohllauts, da Gott aufs irdisch fröhlichste gepriesen wird. Das ganze architektonisch genial gebaute Werk ist durchtränkt von einer erleuchteten, geistvollen Naivität, wie sie nur aus italienischem Wesen wirksam werden kann. (Eigenzitat vom 14.11.1962)
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Die Aufführung hatte sehr schöne Momente. Vor allem die verinnerlichten Ausdrucksfarben gelangen Gerhard Mandl in differenzierten Abstufungen. Auch manche Tempomodifikationen waren eindringlich belebt, und an Steigerungen bestach oft eine klug abgewogene Beziehung von crescendo und accelerando, die energische Impulse gab. Aber im ganzen klang alles mehr nach deutschem Requiem, nach Tiefe und Schuldgefühl und dem Fleisch, das wie Gras ist. Leidenschaftliche Dramatik, animalische Angst, blühende Sinnlichkeit und heitere Verzückung fehlten. Es fehlte, kurz gesagt, die Italianitá. Der Sanctus-Chor, um ein Beispiel zu nennen, voll tänzerisch diesseitigen Jubels (Hosianna, seht ihr, wie schön und lustig es die geliebten Seelen da droben haben?) hielt sich voll ernster Würde an den Text, statt die ganze strahlende Seligkeit der Musik auszukosten.
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Mandl hatte es mit dem großen Aufführungsapparat nicht leicht. Zwar ist diese Fülle zweifellos nötig (Chöre!), doch machte sich, wohl als Folge zu kurzer gemeinsamer Probenzeit, bemerkbar, daß Städtischer und Theaterchor (Einstudierung: Norbert Scherlich) sich nicht homogen zusammenfügten, daß trotz feiner Schattierungen im piano die Kraft des forte oft leer blieb, ohne zwingende Intensität, ohne innere Dramatik. Überhaupt: kein fortissimo sollte so extrem sein, so hart, daß es an Lärm grenzt, daß die Partitur dick und undurchhörbar wirkt. (S o hab ich das Wort „Krachmandl“ in meinem Artikel vom letzten Sonnabend nicht verstanden wissen wollen.) — Auch einige Ungenauigkeiten gab es. Mandls Schlagtechnik ist noch unausgeglichen, kann sehr sicher und ausdrucksfähig sein, wenn er gelöst ist, wirkt aber auch gelegentlich verkrampft, unorganisch — was sich dann wieder auf das vielgliedrige Instrument überträgt. — Im Orchester gab es einige schöne Leistungen (Trompeten, Posaunen, auch die Holzbläser), während die Celli in ihrem wichtigen Offertorio-Part seltsam dürftig klangen, auch unrein intonierten.
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Das Solistenquartett war in den Stimmfarben nicht ideal aufeinander abgestimmt. Zwar sang Helen Bovbjerg — für die erkrankte Lone Koppel — den Sopranpart sehr kultiviert, mit sanft leuchtendem lyrischen Timbre, doch der Kontrast zur glühend dramatischen Amneris-Stimme der Altistin Regine Fonseca (geschmeidig in der Höhe, etwas forciert in der Tiefe) erschien zu groß. Willy van Hese, der Gast-Tenor aus Hilversum, klang immer leicht kehlig, setzte auch im Ausdruck immer den Oratorien-Dämpfer auf — aber Peter Brunsmeiers prächtig geführter, voluminöser Baß rief gar groß und herrlich aus der Tiefe.
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Im ganzen ein Abend, der hoffen käßt, der künftige Kieler Generalmusikdirektor werde seine Mittel, seine Musiker, sein Publikum in den Griff bekommen. Noch ist es nicht ganz so weit. Zwar war der Beifall sehr freundlich. Aber seit Ronnefeld ist man in Kiel allzu leicht geneigt, einer gelinden Form von Größenwahn zu verfallen und fertige Zauberer am Pult als conditio sine qua non zu erwarten. Man sollte dabei nicht vergessen, daß auch das Publikum dazu beitragen kann, aus einem begabten einen reifen Dirigenten zu machen: indem es ihm (wohldosierten) „Vorschuß“ gibt, ihm Zeit läßt, sich zu entwickeln, seine Begabung auszuformen. Auch aus Verdi-Himmeln fallen keine Meister. Seien wir froh, daß wir einen Adepten haben. S. M.
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Siehe auch R. G.