Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 17.12.1970

Abseits vom schönen Schein

Beethovens „Missa solemnis“ unter Hans Zender im Kieler Schloß aufgeführt

Einmütiger Beifall, in den Konzerten der Stadt Kiel und des VdM glücklicherweise keine Selbstverständlichkeit, galt der Aufführung von Beethovens Messe D-Dur op. 123, der „Missa solemnis“, unter Hans Zender im Kieler Schloß. Zender interpretierte die „Missa“ gleichsam abseits vom schönen Schein, war nicht der Versuchung erlegen, ihre Schroffheiten zu glätten und ihr Befremdliches zu vertuschen. Brüchi­ges und Bestürzendes wurden nicht geleugnet, sondern im Gegenteil hervorgekehrt. Um so bedeutungsvoller die Zustimmung. Denn was hier geschah, war neben einer sinnvollen (weil routinefernen) Beet­hoven-Ehrung zugleich Affront gegen ein Musikverständnis, das immer nur nach Schönheit Ausschau hält und vor dem Sperrig-Widersprüchli­chen die Augen verschließt.

Neutralisierung von Klassik als „ewigem Wert“ war Zenders Sache nie, schon gar nicht im Fall Beethovens, mit dem er freilich mehr zu ringen hat als mit anderen Komponisten vergangener Epochen. Und so hörte man denn unverstellt die Merkwürdigkeiten der „Missa“, die — gemessen am klassischen Ideal — wie Unzulänglichkeiten ausse­hen. So das harte unvermittelte Nebeneinander von Klangbezirken verschiedenen Charakters; den Mangel an größeren Durchführungs­teilen mit thematischer und dynamischeer Entwicklung; die Neigung zu übermäßigem und leerem Prunk; die erstaunliche Naivität der „Kriegsmusik“ mit Trommelwirbel und Bläsersignal; oder auch — sehr auffällig — das Fehlen bündiger Satzschlüsse. Gerade in diesem letzten Punkt dürfte Zenders Kompromißlosigkeit jedem deutlich geworden sein. Wo Konklusion, logische Vollstreckung, in der Partitur nicht vorhanden ist, darf sie auch nicht vorgetäuscht werden. So tritt an die Stelle des vorbereiteten Schlusses der Abbruch.

Man darf nun allerdings dies Schürfen nach Wahrheit, das in der Aufführung zu exzessiven und heftigen Wirkungen führte, nicht verwechseln mit Dekuvrierung, mit dem Herunterreißen einer Gloriole, mit der Widerlegung Beethovens selbst, der die „Missa“ 1824 für sein „größtes“ Werk hielt. Folgte man Zenders Konzeption, die gegen Glätte und Konsumentenschmeichelei aufbegehrte, so entdeckte man gerade im Verzicht auf klassische sinfonische Ideale, im Rückgriff auf Archaisches und Naives, im Nebeneinander von Klangfeldern, in fast schon bizarren Allegro- und Prestoteilen sowie im buchstäblichen Verenden von Musik die Einzigartigkeit und Kühnheit dieser Messe-Komposition zu ihrer geschichtlichen Stunde.

Die konzeption des Dirigenten ging auf. Es gelang, nicht nur Ver­ständnis für die Formensprache der „Missa“ zu wecken, sondern sie zugleich als etwas durchaus noch nicht restlos Bekanntes oder gar Bewältigtes vorzustellen. Mehr ist dazu nicht zu sagen; es sei denn, man wollte sich an Einzelheiten entlang wieder zum Wesentlichen hinreden.

Ein großes Ensemble stützte Zender. Bewundernswert erfüllte der Chor, zusammengesetzt aus dem Städtischen Chor Kiel und dem Chor der Bühnen der Landeshauptstadt (beide einstudiert von Lothar Zagrosek), seinen schwierigen Part, der oft genug nahezu virtuose Beherrschung der Stimme und des Aufeinander-Hörens verlangte. Vorzüglich das Quartett der Vokalsolisten mit dem warmen Sopran Victoria Bronis‘, dem dunkel getönten Mezzosopran Gudrun Volkerts, dem hell schimmernden Tenor Martin Häuslers und dem vollen kräfti­gen Baß Takao Okamuras. Zu ihnen gesellte sich im „Agnus Dei” vom ersten Pult her Lothar Ritterhoff mit einem expressiv gestalteten Geigensolo. Adäquat dem Anspruch des Werks schließlich auch das Orchester, innerhalb dessen sich die Holzbläser und die tiefen Streicher hervortaten. ROLF GASKA

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