Philharmonischer Chor Kiel

Flensburger Tageblatt, 13.02.1970

Sinfonischer Karneval in Flensburg

Milhaud’s „Ochse auf dem Dach“ und Orffs „Carmina Burana“ rissen das Publikum zu Beifallsstürmen hin.

Zum Abschluß des Karnevals hatte Heinrich Steiner sein Flens­burger Sinfoniepublikum zum „Le bœf sur le toît” eingeladen: in die Pariser Bar „Der Ochse auf dem Dach“. Als er die berückend tolle, raffiniert vulgäre und zugleich sublim geistige Partitur des genialen Tausendsassa Darius Milhaud zuschlug, da schien er selber verblüfft über den hemmungslosen Beifall, der über ihn und die Nordmark-Sinfoniker hereinbrach. Immer wieder wurde der Professor, der wie ein junger Gott losgelegt hatte, hervorgeklatscht: Es blieb ihm einfach nichts anderes , als den konzentrierten Schlußteil zu wiederholen. Danach, in der Pause, gab es an der Deutschen-Haus-Bar einen wahren Ansturm auf Sekt! Vermutlich wird noch manchem für Tage die sich tief einbohrende kesse Hauptmelodie durch den Kopf schwirren, sie ist danach.

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„Le bœf sur le toît” erfreut schon seit 1919 die Welt. In seiner Eigenschaft als Choreograph hat der „polytropos” Jean Cocteau aus der „Kino-Sinfonie” eine tänzerische Farce gemacht, die in der Bar mit dem großartigen Namen allerlei seltsames Volk zusammenbringt. Ein Polizist erscheint, gleichzeitig erklingen Melodien in Fis-, B- und D-Dur, das geht nicht gut: ein Ventilator fällt von der Decke und köpft den „Bullen”. Übers Bezahlen gibt's Krach zwischen Mixer und einem Gast, der Mixer aber weiß sich zu helfen: er flickt den Polizisten wieder zusammen, und daß die Wiedererweckung zum Leben klappt, daran läßt der bombastisch akzentuierte Schluß keinen Zweifel.

Ein herzerfrischendes Werk, ohne Zweifel auch ein Wurf, dieser „Ochse auf dem Dach“, in der kompositorischen Struktur in etwa vom Genre des Ravelschen „Bolero“, doch ohne peinliche Reminiszenz an diesen, selbstständig also, ein funkelnder Witz das Ganze, köstlich, genial. Die Musiker spielten mitreißend, herrlich trumpften die Schlagzeuger auf, man mußte sie dabei auch sehen! Steiner führte seine Künstler differenziert, sie reagierten mit lauernder Intelligenz und explosivem Temperament.

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Darauf konnten eigentlich nur noch Carl Orffs „Carmina Burana“ folgen, die seit ihrer szenischen Erstaufführung 1937 in Frankfurt am Main sich mehr und mehr als Kantate duchgesetzt haben. In Flens­burg hatte Steiner sie im Oktober 1958 gebracht, der Bremer Lehrer­gesangverein sang damals die Chorsätze. Schade, daß diesmal keine Textbücher angeboten wurden. Denn wie sollte einer, der kein „Küchenlatein“ und Mittelhochdeutsch versteht, hinter den Sinn des ganzen wie so vieler bedeutsamer Einzelheiten der 24 Nummern kommen, die Orff aus der 700 Jahre alten Vagantenliedersammlung der berühmten Benediktbeuroner Handschrift ausgewählt und sinnvoll miteinander verbunden hat? Wie soll einer, der es nicht von vornher­ein weiß — vor allem der Konzertbesucher-Nachwuchs — sich beis­pielsweise den quäkend gequälten Vortrag des Tenors „Cignus ustus cantat” und die chorischen Zwischenbemerkungen so genau verste­hen, daß er aus dem Schmunzeln nicht herauskommt (Die Köche umtanzen den Schwan auf dem Rost oder in der Pfanne)? Oder wie sollte einer den Grund erkennen, weshalb die Sopranistin ihr „In trutina” so unwahrscheinlich nobel-leise singt; Carl Orff selber hatte ihr ein vierfaches Piano auferlegt (pppp), molto amoroso, ma sempre velato e con estrema sensibilità soll die süße Unterwerfung unter das Joch der Liebe hingehaucht werden, „Kreuzung vom Lächeln der Mona Lisa mit den Beinen der Marlene Dietrich” (auch diese unübertreffliche Formulierung stammt von Orff, der es ja immer mit dem Humor hielt).

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Ein „Spezial“-Solotrio für die „Carmina“ stand neben dem Dirigen­ten. Hanna Ulrike Vassal (Bonn) hat schon üner 200mal im In- und Ausland die Sopranpartie gesungen. Sie ist eine Künstlerin von einer Sangeskultur, wie eine Gertrude Pitzinger sie derart fundiert und profiliert vorwies. Der edle Ton wird zum Ereignis, von Gefühl erfüllt und hohem ästhetischen Bewußtsein, im „Dulcissime“, wo das drei­fach gestrichene „d“ wie ein heller Stern im Blau der Nacht erstrahlt, zwingt die Vassal an die 1500 Hörer, den Atem anzuhalten.

Das hohe „D“ nötigt der Komponist allen drei Solisten auf. Am schwersten hat's naturgemäß damit der Bariton. Aber Ferdinand Koenig (Luxemburg) wurde mit der Partitur fertig, die mitunter die Verpflichtung eines weiteren Solisten notwendig macht oder auch die streckenweise Übernahme durch den Tenor. Der große Solist aus dem kleinen Luxembourg, sympathisch wie sein Land, meisterte mit eminenter Technik sowohl die extreme Tiefe wie die Höhe — und es war kein täuschendes Falsett, sondern reine Kopfstimme, die es bei ihm zu bewundern galt. Zu rühmen auch sein schauspielerisch inter­pretiertes Parlando, herrlich vor allem die parodierte Oratio des fetten Abtes und die Vorstellung von Don Juan. — Richard Brünner aus Regensburg gilt nach dem Tode Carl Weismandels heute als der Schwan, der penetrant seine Schmerzen dem lüsternen Appetit der Köche und Gäste entgegenzuklagen hat. Das wird zu einer Klang­studie ersten Ranges, auch bei ihm natürlich keine Falsettmogelei, sondern reine Kopfstimme von ungewöhnlicher Kraft, die dabei zugleich viel Ironie entbietet.

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Der Anteil der Chöre am Gesamtgeschehen, im Codex Buranus als sich ständig drehendes Glücksrad illustriert, ist bedeutend. Godfried Ritter und Wulff-Dieter Irmscher hatten den Städtischen Chor Flens­burg, Joachim v. Oertzen den Chor der Städtischen Bühnen Flensburg, Lothar Zagrosek den Städtischen Chor Kiel für den imponierenden Gesamtauftritt vorbereitet, darin sich der Jugendchor der Goethe-Schule entzückend ausmachte und musischen Feuereifer entwickelte. GMD Steiner hielt die auch optisch imponierende große Sängerschar gut beisammen, in den breiten Fermaten gedieh schönste Konkor­danz. Manche Chorszene wäre besonders zu loben: der Schicksals­chor zu Beginn und Ende des Werkes, das nicht einfache Reigenlied „Chume, chum geselle min“, das Sauflied „In taberna quando sumus“. Auch das Orchester musizierte mit Glut und Temperament. Das alles riß dem Publikum den Beifall nur so aus den Händen, der Kritiker nörgelt hinterher: Ob wir nicht öfter derlei „Karnevals“-Programme haben könnten wie diesmal, und wenn es auf Kosten von Tschai­kowski, Max Bruch und deergleichen ginge? Dr. Wilhelm Hambach

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