Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 20.02.1974

Ringen um den Glauben

Gustav Mahlers 2. Sinfonie unter Carl von Garaguly im Kieler Schloß aufgeführt.

Von Rolf Gaska

Ein großes und schönes Werk. Groß in den Dimensionen. Schön in vielerlei Hinsicht — im Melodischen, in den wechselnden Farben und Stimmungen, im Ausdrucksgestus; am schönsten aber in der Erfüllung des spätromantischen Klangideals.

Gustav Mahler, dessen Name glücklicherweise seit einigen Jahren in jedem Spielzeitprogramm der Stadt Kiel und des VdM auftaucht, rückte jetzt mit einer Aufführung seiner 2. Sinfonie c-Moll erneut ins Blickfeld eines Publikums, das diesen Komponisten immer mehr ver­stehen lernt. Kontinuierliche Pflege des Oevres im Konzert und eine Fülle guter Einspielungen auf Schallplatten haben den Boden bereitet.

Eine Stunde und vierzig Minuten dauerte die Aufführung im Kieler Schloß, eine lange Zeit, angefüllt und ausgefüllt mit musikalischen Ereignissen, die im einzelnen zu beschreiben Seiten füllen würde.

Mahler hat indes in der 2. Sinfonie dem Wort, dem lyrischen Text, eine gewisse Rolle zugestanden. Nicht nur verweist er auf eigene Liedkompositionen, er gewährt schon im vierten Satz („Urlicht“) Einblick in die ihn bewegende Frage nach der Bestimmung des Men­schen, und er geht noch weiter in dem gewaltigen Finalsatz, der den schwer errungenen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele in Klang und Wort mitteilt. Dieses sich Mitteilen im Wort erleichtert und erlaubt auch die knappe zusammenfassende Erläuterung, die Formulierung des umgreifenden psychisch-musikalischen Prozeses. Die Sinfonie, darf man sagen, geht den Weg von den Zweifeln am Sinn menschli­cher Existenz über den Hoffnungsfunken bis hin zur Bejahung: „Du wardst nicht umsonst geboren.“

Es gehört zu den positiven Merkmalen der Kieler Aufführung, daß sie diesen Weg aufs deutlichste nachzeichnete. Dem Gastdirigenten Carl von Garaguly gelang es, mit den bohrenden Fragen des Anfangs (tiefe Streicher) sogleich einen herben und intensiven Zugang zum Werk zu vermitteln. Und denkt man dann an die späteren Höhe­punkte, daran, wie sich die jungen Stimmen von Geeske Hof-Helmers (Sopran) und Pamela MacFarland über Orchester und Chor hinaus­schwangen, wie sich der große, sorgfältig eingestimmte Vokalkörper aus Bühnenchor und Städtischem Chor (Einstudierung Peter Heinrich) mit dem Instrumentalklang zu triumphalen Wirkungen vereinigte, so wird man dieser Aufführung, ungeachtet einiger Vorbehalte, den Beifall sowenig versagen wie viele andere im Publikum.

Vorbehalte? Nun, sie betreffen vor allem die Klanggestaltung der reinen Instrumentalsätze. Da hätten eine größere rhythmische Bieg­samkeit, eine schwingendere Phrasierung, ein genaueres Auspendeln der Gewichte unter den Instrumentalgruppen sicher zu einem noch besseren Ergebnis verholfen. Manches klang zu sehr schwarz-weiß, zu sehr nach Kontrast, wo doch vermittelnde Farben in Fülle vorhan­den waren. Anderes wiederum schien zu wenig gegliedert, zu zaghaft akzentuiert, mehr flächig als räumlich begriffen.

Doch muß man Erwartungen, die gemeinhin an einen Mahler-Inter­preten gestellt werden, gerechterweise für den Einzelfall relativieren, zumal dann, wenn es sich um ein Gastdirigat und um ein so weitläufi­ges Werk wie die Zweite handelt. Insgesamt gesehen ist es mehr als erfreulich, ja geradezu ein Ereignis, daß man in Kiel Gelegenheit hat­te, diese gewaltige Sinfonie in einer Interpretation zu hören, die den Erlebnisraum Mahlerscher Sinfonik aufzuschließen in der Lage war.

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