Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 12.12.1973

Übersteigerung aller Mittel

Klaus Tennstedt dirigierte im Kieler Schloß Beethovens 9. Sinfonie

Beethovens 9. Sinfonie, seit ihrer Entstehung als ein Ausnahme­werk betrachtet und vielerorts wie die Bachschen Passionen regel­mäßig einmal im Jahr aufgeführt, war in Kiel seit einigen Jahren nicht zu hören. Das 3. Sinfoniekonzert der Stadt und des VdM vereinte jetzt im Großen Konzertsaal des Schlosses Städtischen Chor, Opernchor, Solisten und das verstärkte Philharmonische Orchester unter der Leitung von Klaus Tennstedt zu einer Aufführung, über die man sich in mehrfacher Hinsicht noch Gedanken machen wird.

Tennstedt versteht — so jedenfalls läßt die Interpretation anneh­men — das Werk durchaus im Sinne einer Passion; er bemüht sich, das Pathos und die hymnische Übersteigerung des Chorfinales als verpflichtend für die ganze Sinfonie anzusehen. Er setzte schon im Beginn auf einschneidende Kontraste, auf zugespitzte Steigerungen, auf gewaltige Klangentfaltung. Daß darüber die Konstruktivität des Kopfsatzes, seine trotz erheblicher Satzlänge eng zusammenhän­gende Thematilk bisweilen aus dem Blick geriet, war wohl eine unvermeidliche Einbuße. Daß darüber hinaus auch etliche Fehler im Zusammenspiel und in der Präzision unterliefen, trübte den Gesamt­eindruck doch erheblich.

Besser erging es den beiden Mittelsätzen. Das schattenhafte Scherzo war rhythmisch flexibel, formal klug disponiert und auch instrumental gekonnt; das ruhige Adagio verlor zwar durch die überwiegende Oberstimmenbetonung harmonische Folgerichtigkeit und klare Formgrundierung, gewann dafür aber an warmem Strei­cherglanz.

Bedenklich wurde es dann im Finale. Tennstedt entfesselte im jetzt sicher reagierenden Orchester und im großbesetzten Chor immer neue Klangkaskaden. Er konte sich nicht genug tun mit immer stärke­ren dynamischen Ausbrüchen. Dazu kam, daß er mit seiner teilweise überaus schnellen, teilweise extrem langsamen, durch aufgesetzte Fermaten zerrissenen Tempogestaltung die Ausführenden schlichtweg überforderte. Der erhoffte Effekt wurde durch allzu viele Unstimmig­keiten gestört.

So war schon die Schreckensfanfare gewiß schrecklich; so geriet der tempomäßig und dynamisch hochgeputschte Chor alsbald in heftiges Forcieren; so waren auch die durchaus zu differenzierterem Gestalten fähigen Solisten Leonore Kirschstein, Eva Tamassy, Anton de Ridder und Kurt Moll kurzerhand überrumpelt. Voll überzeugen konnte ohnehin nur Kurt Moll; die Damen blieben blaß, unprofiliert, und Anton de Ridder war mit dem Tempo von „Froh, wie deine Sonnen fliegen“ notwendig überfordert.

Der Versuch, das Chorfinale durch die Übersteigerung aller Mittel zu profilieren, muß wohl als mißlungen angesehen werden. Das Heil scheint mir weit eher bei einer bewußt klein gehaltenen, bescheide­nen Auffassung zu liegen. Warum denn immer vor Freude brüllen? Heftiger Beifall des vollbesetzten Hauses. WULF KONOLD

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