Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 11.01.1978

Kammermusik mit großem Orchester

4. Kieler Sinfoniekonzert mit Werken aus der Barockzeit

Von Rolf Gaska

Was sonst reisenden Ensembles vorbehalten ist, Musik der späten Renaissance und des Barocks, füllte jetzt das Programm des 4. Kieler Sinfoniekonzerts. Walter Gillessen dirigierte Gabrieli, Telemann, Hän­del, Bach und Vivaldi: Kammermusikalisches im satten Klang des gro­ßen Orchesters — muß man Purist sein, um daran keinen allzu großen Gefallen zu finden?

Ich meine, man muß nicht. Es ergibt sich aus der Sache selbst, daß kleine Besetzungen in der Deutlichkeit der Darstellung und deshalb auch dem Verständnis angemessener sind als große. Üppigkeit führt bei schnellem Spiel zu einem oberflächlichen, bloß sinnlich-farbigen Reiz. Das Bild, das man sich vom Stück zu machen hat, wirkt hinge­wischt und hingehuscht mit zu breitem Strich. Die Polyphonie wird nicht mehr ernst genommen, das Lineare verschwindet. Allerdings ist dies letztere nicht mehr allein durch Besetzungsstärke zu erklären. Denkbar wäre selbst bei großem Apparat eine differenziertere Art, polyphone Partituren mitzuteilen. Indes — Gillessen suchte die Prachtentfaltung, die „barocke“ Wirkung, für die ein wunderschönes Trompetensolo (stürmisch beklatscht: Konradin Groth) über einer irgendwie aus Händels Werken zusammengeklitterten Orchesterbe­gleitung einsteht. Es klingt doch gut — was wollt ihr mehr.

Bei aller Anspruchslosigkeit eines solchen Musikverständnisses wird aber doch der Blick frei für ein Phänomen, das noch bis in Vivaldis „Gloria“ hineinreicht: die Lust unserer alten Meister und ihrer späten Fans am guten Handwerk, am tönenden Ornament, das sich von alleine fortspinnt, wenn es nur richtig begonnen wurde; auch die Lust am Spiel, das seinen Sinn in sich selbst trägt.

Was ist denn zum Beispiel in Giovanni Gabrielis „Quattro Canzoni per sonar“ anderes zu finden als Spiel zur Erbauung der Phantasie? Da scheint es nicht ohne Logik, wenn der Kieler Hornist J. J. Wilhelm Kaiser, der auch zu komponieren weiß, die Phantasie auf neuzeitliche Art spielen läßt, indem er Gabrielis Werk für zwei siebenstimmige Bläserchöre „stereophonisch“ einrichtet. Das klingt tatsächlich erfrischender als manches andere im Barock-Programm, vor allem weil die Noten Kaisers Kollegen sozusagen nach dem Munde sind. Man ist geneigt, für diese Canzonen zwei, drei Gavotten, Bourrées, Gigues etcetera zu verschenken, selbst wenn sie von Bach und eigentlich sehr gut sind.

Zwischenfrage: Nach wieviel Etcetera-Sätzen ist es erlaubt, unge­duldig zu werden oder abzuschalten? Und: Ist es opportun, nach 18 Sätzen (Zugabe nicht gerechnet) ein Chorwerk mit weiteren elf Nummern aufzuführen?

Vielleicht klingt Vivaldis „Gloria“ gesungen in San Marco und in einem freien, leichten, brillanten italienischen Stil, so, daß man es wiederhören möchte. In Kiel gewann man den Eindruck, die Substanz des Stücks reiche weder an Vivaldis eigene Chorwerke („Jahreszei­ten“) noch an vergleichbares von Bach heran. Doch selbst wenn dieser erste Eindruck zuträfe, die Komposition also mehr oberflächlich (eben „ornamental“) beschaffen wäre, man sollte sie doch nicht so füllig aufpolstern, nicht alles vergessen, was im Bereich zwischen Pianissimo und Mezzoforte möglich ist. Ausdruckscharaktere der Instrumente stärker profilieren, Durchsicht schaffen. Der große Sopran Ingeborg Krügers, der herbe Alt Patricia McCaffreys, die Gillessen in der Oper („Carmen“) herauszuheben versteht, sind bei Vivaldi keines­wegs optimal präsent, auch wenn sie ihre Aufgabe nirgends verfeh­len. Der Städtische Chor, von Christian Fichtner einstudiert, wirkt intonationssicher, gut besetzt, auch kraftvoll. Doch ihm mangelt für Vivaldi Sensibilität, Temperament, Elastizität.

Musik des Barocks ist populär. Der große Schloßsaal war ausver­kauft, und das Publikum zollte Anerkennung.

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