Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 03.01.1980

Wo Kunst und Religion

sich begegnen können

Zum Jahresbeginn: Beethovens „Neunte“ im Kieler Schloß

Von Enno Neuendorf

Der letzte Akkord, in den Beethovens 9. Sinfonie jäh und stürmisch mündet, war noch nicht verklungen: Schon brach im Kieler Schloß fre­netisch der Beifall los, den das Publikum dem Werk und seiner Wie­dergabe spendete. Mehr als tausend Hörer waren von der Bewegung und von der Beschwörung der Millionen Seelen mitgerissen. Für die Interpreten des Beethovenschen Werkes, für Walter Gillessen und das Philharmonische Orchester der Stadt Kiel, für die Gesangssolisten und die rund hundert Mitglieder des Städtischen und des Opernchors war dies ein sehr erfolgreiches VdM-Konzert zum Jahreswechsel.

Vor einem Jahr wurde die Tradition, am Silvesterabend oder am Neujahrstag die „Neunte“ zu geben, vom Städtischen Chor in Kiel wiederaufgenommen. Nach sechs Jahren Pause waren jetzt auch die hiesigen Philharmoniker mit von der Partie, unter günstigeren Umständen als im Vorjahr die Hamburger Symphoniker, die beim Anbruch des Jahrhundertwinters nur mit Mühe noch das Schloß in Kiel erreichten und vor vielen leeren Plätzen im großen Konzertsaal zu spielen hatten.

Die Idee, Beethovens letzte, die bis dahin gültigen Formen spren­gende Sinfonie durch eine vom üblichen Konzertalltag auch zeitlich sich abhebende Aufführung hervorzuheben, verdankt sie ihrem seit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erkannten Ausnahme­charakter und dem bürgerlichen Bedürfnis, große Kunst als eine Er­scheinungsform des Religiösen zu sehen und zu feiern. Keine andere Musik, die zudem vom Geist der klassischen deutschen Dichtung inspiriert ist, erfüllte dies gesellschaftliche Verlangen so gut wie die „Neunte“. Denn „jede wahr und tief empfundene Musik, ob profan oder kirchlich, wandelt auf jenen Höhen, wo Kunst und Religion sich jederzeit begegnen können“ (Albert Schweitzer).

Man wird die jetzt wiederbelebte Sitte — Beethoven zur Jahres­wende, die Aufführung der Neunten überhaupt — nicht als restaurativ denunzieren können, solange sie nicht von Ideologen jeglicher Couleur als leichte Beute mißbraucht wird. Als erhabenes Bekenntnis voll leidenschaftlichen Gefühls und brüderlichen Verlangens nach Einheit und Liebe wiegt die 9. Sinfonie um so schwerer, als Beethoven angesichts seines körperlichen Verfalls und seiner unerfreulichen wirtschaftlichen Lage eigentlich keinen Grund hatte, einen Hymnus auf die Freude und den Schöpfergott zu singen.

In Kiel gelang es Walter Gillessen, dem Generalmusikdirektor auf Abruf, den Impuls, den Beethoven der Welt gab, bei dem einzelnen Hörer weiterwirken zu lassen. Die große Linie der vielgestaltigen Sinfonie war da, unterbrochen nur durch ein zu langes Verweilen vor dem Finale, das nicht abrupt genug die Vision des himmlischen Friedens zunichte machte. Das Molto vivace des Scherzos hatte, wie es sein sollte, das Dämonische einer wilden Hetzjagd, die trotz außergewöhnlich hohen Tempos präzise ablief. Nicht in jedem Falle beachtete das Orchester die pünktliche Ausführung dynamischer Feinheiten, dennoch waren die Leistungen der stark geforderten Instrumentalisten im ganzen beachtlich. Das Rezitativ der tiefen Streicher hatte Kontur, und selbst an unauffälliger Stelle machte zum Beispiel das Fagott mit seinem Kontrapunkt der Freudenmelodie schönste Konkurrenz, Eberhard Schenk verhalf dem Chor zu sicherem und überzeugendem Auftritt. Kieler Opernsänger und der aus Ham­burg verpflichtete schwedische Tenor Erland Hagegard brachten ihre Anteile in das universale Symbol mit seinen immer neuen Anläufen und Steigerungen ein: Hans Georg Ahrens (Baß), Shinja Kim (Alt) und Hanna Zdunek, die die schwierigen Sopranpartien überzeugend bewältigte. Der Jubel, wie gesagt, setzte sich im Auditorium fort.

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