Kieler Nachrichten, 27.02.1980
„Ich will euch trösten“
5. Sinfoniekonzert — Brahms: „Ein deutsches Requiem“
Von Rolf Gaska
Brahms‘ Requiem ist hierzulande eigentlich ein Novemberstück, und seine Aufführung war im vergangenen Jahrzehnt in Kiel die Domäne des St.-Nikolai-Chors unter Hans Gebhard. Nun wallen draußen statt der Novembernebel die Februarschwaden — so groß ist meteorologisch der Unterschied nicht. Die Differenzen liegen eher im Musikalischen. Doch mag es den vielen Liebhabern des „Deutschen Requiems“ selbst überlassen bleiben, die Auffassungen und Leistungen miteinander zu vergleichen, eingedenk dessen, daß jede Interpretation unter ihrem eigenen Stern oder Unstern steht.
Beim 5. Sinfoniekonzert der Stadt Kiel und des VdM dirigierte GMD Walter Gillessen neben seinen Philharmonikern einen großen Singverein, gebildet aus Städtischem Chor und Opernchor, dessen Einstudierung Eberhard Schenk besorgt hatte. Die Solisten waren Hanna Sdunek und Hans Georg Ahrens, beide aus dem Kieler Opern-Ensemble. Führt man sich im Rückblick Teil für Teil dieses „Material“ vor Augen, so wird man vielleicht ein paar Eigenschaften entdecken, die für die Aufführung charakteristisch sind.
Da ist zunächst Gillessen selbst, der im vokalen Bereich sehr stark von der Oper geprägt ist und der dazu neigt, die sich anbietenden Effekte (wie große klangliche Steigerungen) wichtiger zu nehmen als die Binnendifferenzierung. Dies führte zu einer gewissen Oberflächlichkeit, was den Geist des Werks betrifft; denn der Geist spricht (sozusagen) gern piano und mezzo bei Brahms, und der Interpret muß daher nicht immer ungeduldig zur nächsten dynamischen Spitze hindrängen. Wer trösten will, soll alle Ungeduld ablegen: Zu selten ließ die Musik etwas von dieser Haltung, die dem Requiem angemessen ist, spüren. Es fehlte ihr, obgleich fast jede Note ihren richtigen Platz hatte, an Wärme.
Bei der Betrachtung des Chors kann man kaum übersehen und überhören, daß er dringend der Verjüngung bedürfte. Engagement und Schulung der Sänger ersetzen nur zum Teil die leichte Geschmeidigkeit, die dem romantischen Klangbild blühende Farbe schenkt und die selbst ein Geschenk ist. So bestaunte man auch hier die gewaltigen Klanggipfel („Keine Qual rühret sie an“) mehr als die ruhigeren Partien („Denn alles Fleisch“), wo das Zusammengehen der Stimmen homogener, die musikalische Sprache sensibler hätte klingen können. Dies berührt nicht den guten allgemeinen Standard des Chores, es berührt nur den Charakter der Aufführung, den Charakter dieser besonderen „Tröstung“, wenn man so will.
Hanna Sduneks Sopransolo traf den Ausdruck, den Brahms den Bibelworten gegeben hat. Eine weiche, auch in der Höhe noch schwingend-schöne Stimme, die sich nur noch ein wenig mehr öffnen müßte — zur Klarheit der Artikulation hin. Hans Georg Ahrens‘ Baßbariton besitzt eine gute, wenn auch nicht ideale Affinität zur Requiem-Partie. Seine eindringliche Interpretation hätte ebenso wie die Hanna Sduneks deutlicher hervortreten können, wenn die Gewichte zwischen Chor, Orchester und Solisten etwas anders austariert gewesen wären. Ein paar schöne Holzbläsersoli sollte man nicht unerwähnt lassen, auch Posaunen und Hörner kamen sehr annehmbar zur Geltung. Die Streicher hingegen klangen insgesamt (natürlich nicht alle und nicht immer) etwas zu unflexibel. Doch an dieser schwer zu beschreibenden „Starre“ trug trotz einiger Höhepunkte die ganze Aufführung.
Anerkennung für eine große gemeinsame Anstrenggung, das Publikum im Kieler Schloß gewährte sie zu Recht reichlich.