Kieler Nachrichten, 03.01.1981
Appell zum neuen Jahr
Beethovens „Neunte“ im Kieler Schloß aufgeführt
KN: ENNO NEUENDORF Kiel
Die Neubelebung der Sitte, zum Jahreswechsel sich dem Schauer von Beethovens 9. Sinfonie auszusetzen, wurde am Neujahrstag vom Kieler Publikum mit sehr gutem Besuch im großen Konzertsaal im Schloß honoriert. Die Philharmoniker der Stadt Kiel boten eine Fülle schöner Gruppen- und Einzelleistungen, die Walter Gillessen am Pult — die Partitur im Kopf statt den Kopf in der Partitur — zuverlässig, ohne artistischen Firlefanz oder versponnene Gedankenhuberei, zu einem geist- und sinnbetörenden Werk zusammenfaßte. Der Dirigent, der zum letztenmal in Kiel an der Neunten arbeitete, vermochte durch eine solide Konzeption der Tempi und deren Modifikationen zu überzeugen.
Das im ersten Teil ohne Wiederholungen durchgepeitschte Scherzo machte eine zum Zerreißen gespannte fiebrige Erregtheit spürbar. Als ein Blick „in andere Welten“ wurde dagegen das große Adagio-Thema ausgespielt. Die straffe Führung dieser während nur einer Stunde vorgetragenen, durch keine längeren Pausen unterbrochenen Sinfonie kam besonders in dem triumphalen Finale zur Geltung, deren Anläufe zu stets neuen Steigerungen des Ausdrucks allumfassender Liebe doch immer kontrolliert und darum von imposanter Wirkung waren. Hier erfüllte auch der hundertköpfige, durch Opernchormitglieder verstärkte und von Eberhard Schenk einstudierte Städtische Chor Kiel, dem Beethoven stimmlich fast Unmögliches zutraut, sein Soll, wie es nicht besser erwartet werden konnte.
In diesem Finale steigert der Jünger Kants, Schillers und der deutschen Aufklärung die musikalische Botschaft in himmlisch-heiliger Freude zum idealistischen Bekenntnis des Glaubens an einen transzendenten wie an einen in der Natur waltenden Gott, dem das Leben, statt zu trennen und sich abzugrenzen, in brüderlicher Gemeinsamkeit geweiht werden soll.
Im Wechsel von Chor und Solo behaupten sich die Vokalsolisten, allen voran der die Schreckensfanfare abwehrende britische Baßbariton Richard Salter und die Polin Hanna Sdunek, deren kraftvoller, sich hoch aufschwingender Sopran die Mittelstimmen der Koreanerin Shinja Kim und des Schweden Erland Hagegard in den Quartetten überstrahlte.