Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 15.10.1980

Triumphales Mahnmahl

Bruckner-Werke im ersten Kieler Sinfoniekonzert

KN: ENNO NEUENDORF   Kiel

Einen gewaltigen Brocken hatte sich das Philharmonische Orchester der Stadt Kiel zur Eröffnung der neuen Spielzeit vorgenommen. Es dürfte ein hartes Stück Arbeit für Walter Gillessen gewesen sein, diesen Granit aus dem Werk Anton Bruckners herauszuhauen. Am Ende des vielen Meißelns, Boßelns und Abwägens präsentierte sich die Symphonie Nr. 9 d-Moll, die schon durch ihren Namen eine Bezie­hung zu Beethovens Neunter nicht leugnet, als ein triumphales Mahn­mahl, dessen Faszination und Bekenntnishaftigkeit sich wohl niemand im großen Konzertsaal entziehen konnte. Gillessen, das Orchester, zumal die stark vertretenen Blechbläser mit den Wagner-Tuben, und der durch Opernchormitglieder verstärkte Städtische Chor hatten sich damit auch selber ein Denkmal gesetzt.

Daß der Chor mit dem stilistisch anders gearteten und zehn Jahre früher, nämlich 1884 vollendeten „Te Deum“, nach Beethovens Vorbild wiederum dieser Neunten Symphonie den krönenden Abschluß gab, hat seine besondere Bewandnis und unheilige Tradition. Angeblich soll der schwerkranke Anton Bruckner, dem der Tod die Vollendung des schon sehr weit gediehenen, auf einem erstaunlich originellen Bauplan beruhenden monumentalen Finalsatz verwehrte, den Wunsch geäußert haben, seine letzte, „dem lieben Gott gewidmete“ Symphonie, statt mit dem nun fehlenden symphonischen vierten Satz mit seinem Lieblingswerk, dem „Te Deum“ abzuschließen.

Ein solches Ansinnen, das sich auf Bruckner beruft, ist jedoch völlig unberechtigt, nirgends belegt, dient einer rationellen glatten Bequem­lichkeit wie im Bedürfnis nach heroischer Exaltation im Konzernbetrieb und ist damit taub gegen die wahren Offenbarungen in dieser späten Musik Bruckners, die ja auch durch fast 30 Jahre hindurch, dank wohl­meinender Freunde Bruckners, konventionell verfälscht, aufgeführt wurde.

Mit ihren dissonanten Reibungen, den weiten Intervallspannun­gen, der teilweise „tristanesken“ Harmonik und den Anläufen zu immer neuen Höhepunkten dynamischer Ausdrucksgewalt, die Walter Gillessen ungebändigt herauszuschleudern wußte, weist die „Neunte“ weit voraus in frühexpressionistische Bereiche. Ein Stück von Mahler, Schönberg oder Berg wäre nach dem feierlichen, emotional stark auf­geladenen und auch schon einen Schlußcharakter tragenden Agagio also viel natürlicher gewesen als die „Reaktion“ mit vergangener C-Dur-Seligkeit und hoffnungsfroher, nicht zu erschütternder Glau­benszuversicht. Auch die „Lebensabwendung“ und die „Einkehr des Mystikers“, die in der Neunten zu beobachten ist, wurde so durch das pausenlos auf die Symphonie folgende „Te Deum“ abrupt wieder aufgebrochen.

Im übrigen wurde der ambrosianische Lobgesang nicht nur von dem sehr ausgeglichen singenden, von Eberhard Schenk einstudier­ten Chor und dem Orchester mit Orgel, sondern auch von den Gesangssolisten des Kieler Opernhauses vorzüglich interpretiert: von Hans Georg Ahrens (Baß) und Shinja Kim (Alt), in größeren Solopartien Wilhelm Teepe (Tenor) und mit herausragendem, kraftvollem Sopran die Polin Hanna Sdunek. Ungewöhnlich langer Beifall.

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