Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 15.11.1982

Lied und Leid der Überlebenden

2.Kieler Sinfoniekonzert — Werke von Schönberg, Verdi, Bloch und Brahms

KN: ROLF GASKA   Kiel

Darf man zwei Kompositionen ganz verschiedenen geistigen und geschichtlichen Ursprungs so eng zusammenbinden, daß für den Hörer der Eindruck des Ungeschiedenen entsteht? Klaus Weise geht im 2. Kieler Sinfoniekonzert dieses Wagnis ein, indem er Arnold Schönbergs erschütterndes Werk „Ein Überlebender aus Warschau“ und Verdis ergreifendes „Stabat mater“ ohne Zäsur aneinanderreiht. Das eine geht ins andere über, so daß nicht die geringste Gedanken­pause bleibt: der Holocaust in die Kreuzigungsszene, der Aufschrei in die melodische Klage, das harte Unisono des jüdischen Volks in die Klangfülle einer reichen Chor- und Orchestersprache. Über solches Mit- und Gegeneinander ließe sich viel sagen. Man darf jedoch vermu­ten, daß es weniger historisch, politisch und religiös als humanistisch motiviert ist: Lied und Leid vereinen die Überlebenden.

Schönberg schrieb sein Werk im amerikanischen Exil nach der Erzählung eines Mannes, der die Nazi-Greuel überlebt hatte. Der dokumentarische Text ist in der Kieler Aufführung Victor Lederer anvertraut, der den hochexpressiven Sprechgesang so zu formen weiß, daß sich wohl keiner dem dahinter liegenden furchtbaren Geschehen entziehen kann. Das Orchester steigert die Wirkung der Worte durch Gesten des Aufschreis und der Klage bis in Extreme des musikalischen Ausdrucks. Erst der Männerchor beruhigt diese Vision des Infernos mit seinem festen Glaubensgesang, der Gott zu lieben befiehlt — trotz des Bösen in der Welt.

Anders als Schönbergs Komposition ist Verdis Vertonung des „Stabat mater“ ausgelöst durch private Erschütterung, durch den nahenden Tod der geliebten Ehefrau. Gleichwohl formuliert das Werk, das zu den späten „Quattro pezzi sacri“ zählt, allgemeine christliche Leidenserfahrung. Die Erinnerung an den Opern-Verdi verblaßt. In der großen Chorpartie und im dunkel getönten Melos des einfühlsam geführten Orchesters schwingt das reine Gefühl, das Verdis Religio­sität auszeichnet. Der Städtische Chor, von Georg Metz einstudiert, erreicht allerdings — trotz aller „Richtigkeit“ des Wortlauts — nicht immer die im Werk angelegte Empfindungstiefe.

Als ein eher epigonales Stück erweist sich „Schelemo“ von Ernest Bloch. Die „hebräische Rhapsodie“ erzählt mit exotisch klingenden Skalen und aparter Instrumentierung von der Welt und Lebensart des biblischen Salomo. Klaus Weise delektiert seine Zuhörer mit zarten Klangfiguren, die zwischen Thematisch-Melodischem und Ornamen­talem zu changieren scheinen. „Rhapsode“ indes ist der junge Solo­cellist der Hamburger Philharmoniker, der seinen Part nicht gerade „erzmusikantisch“, doch sehr werkgerecht und durchaus interessant gestaltete.

Der musikalische Höhepunkt liegt am Ende des Konzerts. Mit der 3. Sinfonie von Brahms gelingt den Kieler Philharmonikern ein überzeu­gender Beweis ihrer Orchesterkultur. Die weitgespannte Klang- und Empfindungswelt der Sinfonie, in der sich das heftig herabsteigende Kopfthema des ersten Satzes in den letzten Takten des vierten Sat­zes leise verlöschend beruhigt, bedarf eines intensiven Hineinhörens, will man etwas vom Geist dieser Musik erfahren. Klaus Weise und seine Musiker öffnen den Zugang zu Brahms weit. Der Grundgestus der schwingend-pendelnden Melodik ist erfaßt, die wunderbaren Stimmungen der Mittelsätze entfalten sich, die Kraft dramatischer Ele­mente teilt sich mit. Brahms wird hier glücklicherweise und beglückend von innen her begriffen, nicht — wie leider oft — bombastisch mißver­standen.

Das Konzert wird heute abend im Kieler Schloß wiederholt.

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