Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 12.05.1982

Sendbote der Ungarn

Sonderkonzert der Kieler Philharmoniker mit Werken von Zoltán Kodály

KN: ENNO NEUENDORF   Kiel

An dem nach Bartóks Urteil besten ungarischen Musiker vorbeizuge­hen, heißt gleichzeitig, sich um den Genuß eines der bedeutendsten europäischen Komponisten dieses Jahrhunderts zu bringen. Viele Plätze, etwa ein Drittel, waren frei geblieben im großen Schloßsaal, als Klaus Weise mit dem Philharmonischen Orchester und dem Städti­schen Chor Kiel des vor 100 Jahren geborenen Volksliedforschers, Komponisten, Pädagogen gedachte. Es war bereits Weises 3. Sonder­konzert: ein neuer Typ im Angebot des Kieler Musikmarkts, abgeson­dert von der eingeführten Serie der städtischen Symphoniekonzerte, wollen diese Konzerte weniger elitär als populär sein und trotzdem stets etwas Besonderes bieten.

Mit seinem Volk und der von ihm größtenteils erst erforschten Musik seines Volks ist Zoltán Kodály, wie man weiß, auf eine so innige Weise verbunden, daß der Komponist Kodály gar nicht umhin kann, als auch im Geist und oft auch mit dem archaischen, von pentato­nischen Themen geprägten Material dieser Volksmusik seine eigene charakteristische Musik zu entwerfen. So waren auch die gleich zu Beginn präsentierten 16 Variationen über das ungarische Lied „Der Pfau ist aufgeflogen“ (um nämlich Gefangenen die Freiheit zu bringen) in Kodálys eigenen Worten „transsubstantiierte Volksmusik“. Kodály verwendet die Sprache der Volksmusik, nicht aber deren Formen. Da ein Volksliedthema in klassischen Formen nicht entwickelt werden kann, bot hier aber die Form der Variation einen ausgezeichneten Zugang zu dem ursprünglichen, manchmal bis auf die asiatische Vorgeschichte der Ungarn rückführbaren Gehalt.

Klaus Weise führte seine Philharmoniker bereits hier zu einem orchestralen Glanz. Mit dem „Psalmus hungaricus“, einem Gesang der Verfolgten und Bedrängten, der Kodálys Ruhm im Jahr 1923 begrün­dete, konnte sich der von Georg Metz einstudierte Städtische Chor Kiel profilieren. Dessen Stimmen, von Kodály als eine machtvolle Demonstration des menschlichen Herzens eingesetzt, ein Aufschrei des leidenden Volks zur Zeit Davids 1000 Jahre vor Christus, im 16. Jahrhundert (unter türkischer Herrschaft) und in jüngster Vergangen­heit, wechselten ab oder vermischten sich mit dem Tenorsolo Peter Priors. In der Artikulation nicht voll befriedigend, vermochte dieser Kieler Solist dynamisch sich zu steigern bis zu jener Grenze, da sein Wehgeschrei vom Orchester fortissimo übernommen und verdeckt wurde — vor jenem Augenblick einer vollkommenen Stille, die einen erneuten Solo-Ausbruch vorbereitete. Das Auf und Ab einer solchen musikalischen Bewegung war beeindruckend.

Bleibt noch der Hinweis auf die fulminant erarbeitete Suite aus „Háry János“. Der Held des Stücks ist ein ungarischer Kriegsveteran zu Napoleons Zeiten, dessen Abenteuer und Phantasien die Musik Kodálys in den schillerndsten, auch ein folkloristisches Instrument wie die ungarische Zimbal einbeziehenden Farben lebhaft zu vergegen­wärtigen weiß. Teile daraus mußten als Zugabe wiederholt werden. Diese Suite wird von Klaus Weise noch einmal im 6. Kinderkonzert am 23. Mai im Opernhaus ausführlich vorgestellt werden.

Nach einem solchen Konzert begreift man, daß Kodály sich ver­stand als Sendbote eines Volkes, das Jahrhunderte hindurch mit der Waffe um das nackte Überleben kämpfen mußte. Seine „Werke des Friedens“ geben den Ungarn nun einen bleibenden Ausdruck.

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