Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 17.02.1982

Fausts Vertonung

5. Kieler Symphoniekonzert mit Werken von Wagner, Berlioz und Liszt

KN: ROLF GASKA   Kiel

Faustus — das ist lateinisch der Glücksbringende. Und was Kiel betrifft, so hat er in der Inkarnation des „Faustus nostalgicus“ dem Theater unlängst viel Fortune gebracht. Wie es sich mit Goethes „Faust“-Tragödie verhalten wird — warten wir’s ab: am 7. März ist Premiere. Die musikalische Einstimmung beim 5. Kieler Symphonie­konzert im Schloß jedenfalls möchte man gern als gutes Omen werten. Klaus Weise, die Philharmoniker und der Städtische Chor warteten mit fesselnder Musik zum Drama auf, mit Charakterbildern der Hauptfigur, mit Fausts Vertonung sozusagen.

Die Programmauswahl dürfte dem Kieler Generalmusikdirektor nicht ganz leicht gefallen sein. Der alte Magier, den Goethe zum Archetyp des rastlos-nimmersatten Begehrenden formte, hat samt seinem teuflischen Partner Mephisto und seinem sanften Gretchen die Komponisten so stark beschäftigt wie die Dichter. Im 19. Jahrhundert gab es einen „Faust“-Boom, der bis in Mahlers 8. Sinfonie hineinreicht. Zahllose Bühnenmusiken, Ouvertüren, Ballette, Lieder, Charakter- und Salonstücke entstanden, auch Opern und Chorwerke. Weise ent­schied sich für „Eine Faust-Ouvertüre“ von Richard Wagner, für den „Ungarischen Marsch“ aus „Fausts Verdammung“ von Hector Berlioz und „Eine Faust-Symphonie“ von Franz Liszt. Liszt prägte den Abend. Wagner wirkte wie eine Präambel, Berlioz wie eine Zugabe — von ihm hätte sich „Faust“-Näheres ganz gewiß finden lassen.

Immerhin verbreitete der Berlioz'-sche Hit die disziplinierte und zugleich ansteckende Spiellaune des Orchesters, die sich später am Mephistopheles-Satz Liszts glänzend bestätigte. Wagners Ouvertüre hingegen, verhalten spannungsvoll musiziert, interessierte vom Werk her — ein Stück zwischen Beethovens Neunter und dem „Holländer“, manchmal wohl nicht ganz schlüssig in der Verknüpfung der Themen, aber doch originell und von einem nachdrücklichen Ernst. Der Kom­ponist schrieb seine Ouvertüre in „elender Lage“ („mein Leben“) als ersten Satz einer geplanten „Faust“-Sinfonie. Ein zweiter Satz sollte „Gretchen“ heißen. Mit anderen Worten: Was Liszt in seiner „Faust“- Adaption zu Ende führte, hatte Wagner ihm vorgedacht.

Siebzig Minuten Liszt, 303 Seiten Taschenpartitur. Mancher mag dabei ein wenig müde geworden sein, nicht die Musiker selbst. Klaus Weise dirigierte eine lebendige und inspirierte Aufführung des Werks. Es erklingt sehr selten im Konzertsaal. Die allermeisten Musikfreunde kennen es nur durch Rundfunk und Schallplatte, wenn überhaupt. So war schon die „Live“-Präsentation ein Verdienst, um so mehr die eindringliche Interpretation.

Faust als der Grüblerische, Sehnsüchtige, Rastlose und Tätige; Gretchen als die Reine, Empfindungsvolle, Schwärmerische; Mephisto als Fausts Zerrbild, gezeichnet durch verfratzte Faust-Themen, durch eine höllische Fuge: Das sind die drei Charaktere der drei Sätze, auf die der Chorus mysticus folgt — mit pathetischem Männerchor und allzu engelhaftem Tenorsolo samt brausendem Orgelklang. Verständ­lich, daß man sich angesichts des Finales heutzutage mehr her- als hingerissen fühlt. Aber die Gretchen-Idylle ist musikalisch nicht nur akzeptabel, sondern so kunstvoll wie ergreifend, Kammermusik — wer erwartet sie eigentlich hier — von einem Wohllaut, der sich den billigen Effekt versagt. Und das Faust-Mephisto-Gegenbild birgt eine Musik-Philosophie, die so schnell nicht auszuschöpfen ist.

Klaus Weise zeichnete die Konturen des Werks mit seinen hervor­ragend reagierenden und mitdenkenden Musikern sehr deutlich nach. Keine Verwaschenheit, keine Unsicherheit, Soli und Tutti meist sehr klangrein und immer sensitiv. Jonathan Mack, ein junger lyrischer Tenor aus den USA, pries mit weicher, leichter, fast fiminin klingender Stimme das „Ewig-Weibliche“, die Herren des Städtischen Chors Kiel intonierten, einstudiert von Georg Metz (der die Orgel spielte), mit Inbrunst Goethes letzte „Faust“-Strophe. Wie immer man zu dem Werk stehen mag, die Aufführung verdiente allen Beifall, den sie erhielt.

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