Philharmonischer Chor Kiel

Nordwest-Zeitung Oldenburg, 16./17.06.1981

Gustav Mahler — „zur Sprache“ gebracht

Eindrucksvolle Aufführung der Achten Sinfonie in der Weser-Ems-Halle Oldenburg

Oldenburg. Die Aufführung von Mahlers Achter Sinfonie, als „Jahr­hundertkonzert“ apostrophiert — hier ward’s Ereignis. Das ist nicht als billige Paraphrase des Chorus mysticus aus Goethes „Faust II“, mit dem das Werk ergreifend ausklingt, gemeint, sondern ernst.

Um dieses überdimensionale Werk aufzuführen (siehe auch unsere ausführlichen Vorbetrachtungen am 5. und 12. Juni), bedarf es der besten Kräfte und des restlosen Verständnisses, technisch wie geistig, für diesen Riesenbau einer symphonischen Chorkantate, dem kaum etwas Vergleichbares an die Seite zu stellen ist. Leicht geht gerade bei Mahlers „Achter“ (deren Realisierung weit mehr als eine Frage der Massenbewältigung ist), die grandiose Einheit der zykli­schen Form in der Fülle der verwirrend reichen, zugleich höchst beziehungsvoll komponierten Einzelheiten unter, und wenn nicht allen Ausführenden — ebenso wie den Hörern, an die das Werk letztlich doch ungewöhnliche Anforderungen stellt — in jeder Einzelheit der Blick auf das Ganze offenbleibt, wird sich niemals das Erlebnis künst­lerischer Einheit aus innerer Notwendigkeit einstellen.

Man ging daher zur Aufführung des Werkes in der Weser-Ems-Hal­le mit einiger Skepsis: Würde das, was gemeinhin nur auf der Schall­platte (und nicht einmal immer hier) restlos gelingt, den vereinigten Chören — Hannoverscher Oratorienchor (Einstudierung Hans Herbert Jöris), Städtischer Chor Kiel (Einstudierung Eberhard Schenk), Sing­verein Oldenburg (Einstudierung Wolfgang Schmid, Peter Vettermann, David G. Evans), Wolfsburger Chorgemeinschaft (Einstudierung Heinz Meyer-Kundt), Knabenchor Hannover (Einstudierung Heinz Hennig), dazu den vereinigten Orchestern des Staatstheaters Oldenburg und des NDR Hannover, gelingen? Würde es vor allem gelingen, ange­sichts eines Raums (Weser-Ems-Halle), der für alles Mögliche geschaf­fen zu sein scheint, nur nicht für die Musik?

Nun — es gelang in ganz erstaunlichem und beglückendem Maße, und es zeigte sich bald, welch grandioser Ergebnisse die unbedingte, begeisterte Hingabe an das Werk gerade bei diesen Chören, bei diesen — vereinigten — Orchestern (Staatsorchester Oldenburg und NDR Hannover) fähig war. so entstand eine ungemein eindrucksvolle, ungemein bewegende Aufführung, die gerade die Gesamtform des Werks, ihre symphonisch-zyklische Einheit über alle Kontraste hinweg überraschend deutlich herausarbeitete, und deren geistiges Band die schöne Einordnung aller Mitwirkenden als Diener — an einem in jeder Hinsicht außerordentlichen Werk — bildete.

Dieser positive Gesamteindruck, der alle wochenlange Kleinarbeit der Einstudierung, der „Zusammensetzung“ eines gewaltigen musi­kalischen Apparats, vergessen ließ — sollte zunächst herausgestellt werden — ein Eindruck, der das wahrscheinlich größte und diffizilste Problem jeder Aufführung, über die Beherrschung aller technischen Einzelheiten hinaus echte Spontaneität zu entfalten, dem Ganzen den grandiosen zündenden Funken zu geben, als weitgehend (wenn­gleich innerhalb gewisser Grenzen) gelöst erscheinen ließ.

Die innere Spannkraft des Werks, die seine geistige Größe ahnen ließ, war von Anfang bis Ende fast (fast!) unverändert lebendig: dank einer Darstellung, die dem Werk Adel und Würde und, jenseits aller vereinzelt auftretenden technischen Probleme, Ausstrahlungskraft im ganzen wie im Detail verlieh. Kontrastbeziehungen wurden, dank einer erstaunlichen Transparenz des Satzbildes, nicht weniger deut­lich als eine wahrhaft symphonische, wahrhaft lyrische und „atmo­sphä­rische“ Spannkraft und Intensität, die im ersten Satz („Veni Creator Spiritus“) allen inneren Beziehungsreichtum und grandisen Impuls, im zweiten Satz (dem vertonten Schluß von Goethes „Faust II“) alle lyrisch-atmosphärischen Kontraste und Entwicklungen facettenreich aufleuchten ließ.

Daß es dennoch vereinzelt kleine Schönheitsfehler gab — chori­sche Al-fresco-Skizzen statt polyphoner Prägnanz, leicht unentschie­dene Choreinsätze und einen, vor allem im ersten Teil, bisweilen „schwankenden“ Kontakt zwischen den einzelnen Gruppen des „Apparats“, verschlägt wenig angesichts einer insgesamt hervorra­genden, konzentrierten und ungemein fesselnden Leistung.

Daran hatten alle Beteiligten ihren Anteil: allen voran Wolfgang Schmid, der die Chöre, jenseits jener (durchaus verzeihbaren) Schönheitsfehler, fest in der Hand hatte und der der Aufführung mit Umsicht, Energie und ausstrahlungsstarker Spontaneität — über alle technischen Probleme der Einstudierung hinaus — ihr Gepräge gab. Ein verläßliches, im Timbre der Frauenstimmen vorzüglich abgestimm­tes Solistenensemble stand zu Gebote: Wakoh Shimada (Sopran I), Sharon Markovich (Sopran II), Kumiko Ushita (Mater gloriosa), Lynne Wickenden und Marita Dübbers (Alt I und II), Allan Cathcart (Tenor) als großartig eindrucksvoller Doctor Marianus, Andreas Förster als Pater ecstaticus (Bariton) und Robert Holl (Baß) als Pater profundus.

Prunkhaft ausladende Großflächigkeit und feine Differenzierung der Einzelheiten verbanden sich zu einer Aufführung von unmittelbarer Ausdruckskraft und Ergriffenheit — einer Aufführung, die in ihrer prägnanten, stellenweise überwältigenden Ausstrahlungskraft wie in ihrer technischen Qualität hohes Niveau erreichte. Großer, begeister­ter, lange anhaltender Beifall. Werner Matthes

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