Kieler Nachrichten, 03.01.2013
In frischer Blüte weit verzweigt
Neujahrskonzert der Kieler Philharmoniker mit Ludwig van Beethovens „Neunter“
Kiel. Lange galt Beethovens Neunte Symphonie d-Moll op.125 als Inbegriff der feierlich pompösen Jubelfeier, die gar nicht üppig genug besetzt und intensiv strömender zelebriert werden konnte. Kiels Generalmusikdirektor Georg Fritzsch hält es im Neujahrskonzert dagegen lieber mit den jüngeren Erkenntnissen historischer Aufführungspraxis und präsentiert eine schlank pointierte Interpretation, die auf andere Weise Freude macht und Götterfunken sprüht.
Von Christian Strehk
Nur vier Bässe, einige wenige Bratschen und Celli, etwas mehr Violinen, dazu luftig streichende Klassikbögen und konsequente Askese , was das romantisierend aufbauschende Vibrato angeht: Es herrscht nicht nur in Quadratmetern viel Platz auf der Bühne des ausverkauften Kieler Schlosses. GMD Fritzsch räumt auf, spinnt den Streichervorhang so transparent, dass die Holzbläser, Naturhörner, -trompeten und -posaunen dahinter deutlich zum Vorschein kommen. Scharfe Kontraste und rhythmische Widerhaken werden leichter hörbar. Das allmähliche Zusammenwachsen lebendiger Thematik aus „anorganischen“ Zutaten wie leere Quinten und Quarten wird im Kopfsatz greifbar. Die Pauke knattert herrlich ungehörig im Gewitter des zweiten Satzes gegenan.
Besonders im berühmten dritten, dem langsamen Satz erlebt man in nur gut 14 Minuten (manche Dirigenten-Kollegen brauchen dafür bis zu 10 Minuten länger), was Claude Debussy mit seinem wunderschönen Bild eines plötzlich aufblühenden Baumes über Beethovens Neunte treffend sagte. Kurz vor der großen chorsinfonischen Knospenexplosion des Finales verzweigt und verästelt sich die Musik tausendfach. Fritzsch und seine Philharmoniker nivellieren nichts. Ihnen ist „schön“ hier zu wenig. Deshalb nehmen sie in Kauf, dass die deutlich labileren Blasinstrumente alter Bauart und die stärker intonationsgefährdeten Non-Vibrato-Streicher auch mal ihre „hässlicheren“ Momente haben. Der Dirihat dabei aber – allen lieb gewonnenen Traditionen zum Trotz – die Partitur im wahrsten Sinne im Kopf und auf seiner Seite: Die Metronom-Zahlen, die Temporückungen, polyrhythmischen Schichten oder Umfärbungen in der Instrumentation sind ja vom Komponisten notiert. Und auf einmal ist die sonst so merkwürdig „von außen“ ins singende Adagio hereinbrechende Bläser-Fanfare nur ein Teil des munter im Wind wogenden Vielgestaltigen.
Wenn dann aus dem chaotischen „Zuviel“, das Beethoven am Beginn des Finales einfordert, nach und nach die brüderlich humane Ordnung wächst, bis die Trompeten strahlen und Schillers Ode an die Freude schillert, wirkt das ungeheuer zwingend und „folgerichtig“.
Auch ergibt sich ein bewegender Augenblick, wenn mit Petros Magoulas ausgerechnet ein Grieche die Europa-Hymne lauthals heraufbeschwört ... Gemeinsam mit dem froh siegenden Tenor Fred Hoffmann, der nobel eingepassten Mezzosopran-Stimme von Amira Elmadfa und der allen vokalen Beethoven-Zumutungen gekonnt trotzenden Sopranistin Anne Preuß bildet der Bass ein gutes Vokalquartett, das allerdings vom Chor übertrumpft wird. Die von Barbara Kler, Michael Nündel und Ralf Popken auf Textverständlichkeit, klangliche Frische und Wendigkeit getrimmte Mischung von Opernchor-Profis mit Enthusiasten vom Philharmonischen Chor sowie Jugendchor-Engeln und –Nymphen stimmt. Dafür wird der allergrößte des anhaltend dankbaren Beifalls geerntet.