Kieler Nachrichten, 03.01.2018
Beethovens Rettungssymphonie
GMD-Kandidat Gregor Bühl mit der „Neunten“
im Kieler Neujahrskonzert
VON CHRISTIAN STREHK
KIEL. In der allemal stattlichen Konzertrepertoire-Liste von Gregor Bühls eigener Internet-Homepage taucht ausgerechnet der Name Beethoven amüsanterweise gar nicht auf. Dabei beweist der 1964 in der Eifel geborene Schlagzeuger und Dirigent im ausverkauften Neujahrskonzert der Kieler Philharmoniker, dass er sogar im besonders heiklen Fall der Neunten Symphonie d-Moll op. 125 souverän dazu in der Lage ist, das zwischen Wiener-Klassik-Krone und Romantik-Vorahnung changierende Werk profiliert zu gestalten. Und das, obwohl er als Einspringer nach dem irritierend abrupten Rückzug des dänischen Italieners Giordano Bellincampi als Nachfolgekandidat für Generalmusikdirektor Georg Fritzsch noch weniger Probenzeit zur Verfügung hatte, als einigermaßen vertretbar.
GMD-Kandidat Bühl macht am Pult auch in Sachen Beethoven keinen Hehl daraus, dass er als Gastdirigent in Häusern wie der Dresdner Semperoper, der Deutschen Oper Berlin, in Köln, Stuttgart oder Stockholm für seine musiktheatralischen Instinkte geschätzt wird. Schon der Kopfsatz der Neunten baut sich primär dramatisch auf – von der auf Bruckner vorausweisenden Motiv-Hexenküche bis zur geballten Entladung gegen Ende. Der zweite Satz wird in kühner Rasanz zur rhythmisch exzessiven Gewitterszene mit donnernder Pauke und kein bisschen weniger aufgeregtem Trio-Kontrastteil.
Den ebenso herrlichen wie gefürchteten langsamen Satz lässt Bühl eher intensiv als innig entrückt, aber wirklich „cantabile“ fließen, belebt ihn dabei immer wieder geschickt, um ihn erfolgreich vor dem Zerfall in Einzelteile zu bewahren. Und das Finale? Das entwickelt sich (aus dem hier einmal überraschend kontrollsüchtig festgehaltenen auskomponierten Chaos des Beginns heraus) bald mit zwingender Stringenz zum euphorischen Rettungspathos à la Fidelio: Fieber, Freude, Freiheitsutopie: Wäre doch Europa so enthusiastisch gemeinschaftlich gepolt wie seine Hymne!
Man hat all das unter Fritzsch oder seinem Stellvertreter Daniel Carlberg in den vergangenen Jahren in Richtung historisch informierter Aufführungspraxis mit Klassik-Bögen, Vibrato-Diät und Nachbauten alter Blasinstrumente schon detailfreudiger profiliert gehört. Aber Bühl ruft mit zwangsläufig eher vorausweisend romantischem Ansatz allemal einen ausdrucksstarken Sog hervor, der das Publikum erreicht und mitreißt. Und die allermeisten der wahrlich schwierigen Passagen werden vom Orchester aufgrund seiner gewandten Zeichensprache verstanden und sprechend umgesetzt.
Das gilt auch für die Schiller-Ode und ihre Protagonisten. Jörg Sabrowski hat die knorrige Autorität im Bassbariton, um wirkungsmächtig nach anderen, freudenvolleren Tönen zu rufen. Agnieszka Hauzer, Tatia Jibladze und Michael Müller-Kasztelan, bestehen Beethovens eigentlich unmenschliche stimmliche Wünsche mit Einzelgeschick und Ensemblekultur. Moritz Caffier und Lam Tran Dinh haben die Jugendchor-Akademisten, die Profis vom Opernchor und die erfahrenen Freizeit-Sänger des Philharmonischen Chores zu einem klar skandierenden, dynamisch reaktionsschnellen Vokal-Tutti geformt. Chapeau! Bühl nutzt dieses Potential effektvoll – egal, ob Beethoven nun offiziell zu seinem Repertoire gehört oder nicht ...