Kieler Nachrichten, 22.06.2015
Eruption und Erlösung
Gustav Mahlers „Auferstehungssymphonie“
unter Gerhard Markson im Kieler Schloss
VON CHRISTIAN STREHK
KIEL. „Bedeutende Augen hinter Brillengläsern, Furchen des Leides und des Humors im Antlitz, das den erstaunlichsten Wechsel des Ausdrucks zeigte … noch nie hatte ich einen so intensiven Menschen gesehen“: Die Beschreibung der 34-jährigen Hamburger Dirigentengröße Gustav Mahler durch seinen jungen Assistenten Bruno Walter trifft im Jahr 1894 genau das, was sich auch in dessen Übergrößenpartitur von der Zweiten Symphonie c-Moll tut. Ihre ungeheure Wirkung verfehlt sie eigentlich nie. Allerdings braucht es einen kundigen Mahler-Dirigenten wie den aktuellen Gast der Kieler Philharmoniker Gerhard Markson, um die genialen orchestertechnischen Kniffe, den großen Atem und die gewaltigen Steigerungen wirklich auszureizen.
Von den heftigen Eruptionen in den Celli und Bässen an, setzt Markson minutiös um, was in den Noten an den Grundfesten der vermeintlich so schönen Romantik rüttelt. Die Philharmoniker attackieren und verbrämen, sie schwellen an und ab, skandieren packend plastisch. Und sie lassen sich, fast ohne Ruckeleien, in Grenzbereiche des Ausdrucks und des spieltechnisch noch Möglichen locken. Zum Beispiel werden sie in der Mitte des ersten Satzes innerhalb von zehn „schnell“ gestellten Takten tatsächlich aus voller Fortissimo-Heftigkeit bis zu einem magisch jenseitigen Raunen gedimmt: „bis zur Unhörbarkeit abnehmen“, fordert Mahler nämlich da – und dem Hörer im gut besuchten Kiel Schloss stockt prompt der Atem.
Solche Momente lockt Markson viele heraus. Im Finale rundet er die Choralaura mit kleinen Verzögerungen hinreißend und zeigt sich als souveräner Klangregisseur für die heiklen Fernorchester-Effekte, die sich aus den Foyers einmischen. Das Ländler-Andante hat zuvor einen wunderbar ruhevoll innigen Swing. Die Sehnsuchtsmusik tönt wie Kostbares hinter einer Scheibe und wird in der gezupften Passage gar zum schaurig-schönen Glasperlenspiel.
Wie ein gut nacherzählter Spuk streift auch die falsche Heiterkeit des Totentanz-Scherzos vorüber, um dem prachtvoll warm leuchtenden Alt-Solo von Alexandra Petersamer im Urlicht-satz als zutiefst menschliches Gegenbild Platz zu machen. Ihre resonanzreiche Stimme schmiegt sich an die beseelten Holzbläser-Soli und gestaltet auswendig besonders bewegend eindringlich. Dieses vom Kieler-Woche-Förderverein unterstützte Festival-Niveau erreicht Lori Guilbeau am Sonntagmorgen nicht ganz, ist aber mit großem Sopran souverän mit von der Partie.
Und die vereinigtren Chöre (Opernchor, Philharmonischer Chor und Studentenkantorei der Universität), die mit auffällig stolzer Männerstimmenriege die ganze Empore fluten? Einstudiert von Lam Tran Dinh und Universitätsmusikdirektor Bernhard Emmer zelebrieren sie den erlösenden Auferstehungshymnus sehr klangvoll, überbringen den Klopstock-Text sprechend eindringlich. Dass das massige Kollektiv beim bekannt brisanten A-capella-Beginn die Höhe nicht ganz halten kann, liegt auch an den raumakustischen Schwierigkeiten, sich im Bühnenbereich des Schlosses untereinander hören zu können – und an der Risikobereitschaft Marksons. Der Dirigent verzichtet auf die von Mahler „nur im Notfalle“ erlaubten Stützstimmen von Posaunen, Violinen und Bratschen, um das konfessionsübergreifende Unsterblichkeitsgebet der singenden Seelen nicht zu stören. Für den anschließenden mächtigen Apotheose-Höhenflug und den insgesamt starken Saisonabschluss gibt es berechtigt beständigen Riesenbeifall.