Kieler Nachrichten, 03.01.2015
Auftakt mit humanistischem Feuer
Packend: Georg Fritzsch dierigierte Beethovens „Neunte“ im ausverkauften Kieler Schloss
Kiel. Mit einer packenden „historisch informierten“ Wiedergabe von Ludwig van Beethovens 9. Symphonie eröffneten am Neujahrsabend unter Leitung von GMD Georg Fritzsch das Philharmonische Orchester und der Philharmonische Chor Kiel, Opernchor, Kinder- und Jugendchor der Oper sowie die Vokalsolisten das neue Jahr. Dafür gab es im ausverkauften Saal des Kieler Schlosses stürmischen, lang anhaltenden Beifall.
Von Michael Struck
Nein, Beethovens Neunte können Mitläufer und Hauptverantwortliche von „Pegida“ nicht für sich reklamieren. Wo sie in Verzerrung der ursprünglichen Bedeutung skandieren: „Wir sind das Volk!“, klingt das insgeheim nach Ausgrenzung. Beethovens 9. Symphonie behauptet dagegen in ihrem Grenzen sprengenden Finalsatz mit Schillers Worten: „Alle Menschen werden Brüder“. Ja, bei den Worten „Froh wie seine Sonnen fliegen durch des Himmels prächt'gen Plan, laufet Brüder eure Bahn“ inszenierte der Komponist mit Piccoloflöte, großer Trommel, Becken und Triangel die sogenannte Türkische Musik (Janitscharenmusik). Das tat er nicht, um damit das Exotische, das „Fremde“ zu kennzeichnen oder zu parodieren, wie es im späten 18. Jahrhundert noch Mode gewesen war. Vielmehr unterstrich er dadurch das Globale des humanistischen Anspruchs. So ist es kein Wunder, dass dieser „türkisch“ getönte Teil nahtlos ins Allerheiligste mitteleuropäischer Kunstmusik mündet, nämlich in eine Art Fuge, und später beim ekstatischen Schluss des Werkes erneut mitwirkt. Das ist alles andere als „pegida“-tauglich.
Beethovens radikalen Humanismus, der in den ersten drei Sätzen der Neunten mit äußerstem Einsatz erkämpft, ertrotzt und erträumt wird, führte Fritzsch den Hörern mit Orchester und Chor überzeugend vor Ohren. „Historisch informiert“ bedeutete dabei eine verkleinerte Orchesterbesetzung von 54 Spielern und den Verzicht auf Vibrato-Wolkigkeiten der Tonbildung – nicht nur bei den Streichern, sondern auch bei den Bläsern. Es bedeutete zudem vergleichsweise zügige Tempi (ohne dass Beethovens scheinbar utopische Alles-oder-Nichts-Metronomzahlen angepeilt waren). Der langsame Satz gewann unter diesen Voraussetzungen einen wunderbar spröde-seraphischen Ton, glitt, nein schwebte im ersten Thema und seinen Variationen lyrisch dahin und entfaltete im D-Dur-Gegenthema einen unwiderstehlichen gesanglichen Sog. Zuvor hatten wir im erratischen Kopfsatz eine bemerkenswerte Verbindung von Klangprägnanz und beinahe zornigem Elan erlebt und vor dem Hoffnungsstrahl, den das Horn gegen Ende des Satzes mit seinem D-Dur-Ruf aufblitzen lässt, eine mitreißende Steigerung. Sensible Soli – von den Holzbläsern über die Hörner bis zur irrwischhaften Pauke – ließen schon die drei Instrumentalsätze ungemein „sprechend“ wirken. Wenn das Zusammenspiel vereinzelt doch einmal kleine Unwuchten zeigte, waren das Erdenreste, die bei Aufführungen des herausfordernden Werkes kaum vermeidbar sind.
Das Finale entwickelte nach dieser „Vorgeschichte“ einen humanistischen Elan, den der Chor von der ersten bis zur letzten Note stimmfrisch und rhythmussicher mitbefeuerte. Klanglich homogen sang das Solistenquartett (Agnieszka Hauzer, Sopran; Marina Fideli, Alt; Bryan Register, Tenor; Christoph Woo, Bass), zeigte gelegentlich aber leichte Tendenzen zum Tempotrödeln. Nur eine Frage blieb offen: Muss das Rezitativ der Celli und Kontrabässe, das zum ersten, ebenfalls noch wortlosen Erklingen der Freude-Melodie führt, wirklich immer so breit genommen werden, wie es auch diesmal präsentiert wurde? Es klingt dann eher nach staatsmännischer Verlautbarung als nach erregt-unwirschem Zwischenruf. Genau den fordert doch Beethovens Anweisung, hier solle rezitativisch frei, aber „in tempo“ gespielt werden – also im Presto-Modus. Insgesamt war dies freilich eine der fesselndsten Neujahrsaufführungen der Neunten, die in den vergangenen Jahrzehnten in Kiel zu erleben waren.