Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 13.01.1997

Kieler Sinfoniekonzert: Wider das Vergessen

Schmerz, Trauer, stille Ohnmacht

„I cannot remember everything – An das meiste kann ich mich nicht mehr erinnern“, beginnt Schönbergs A Survivor from Warsaw op 46. Wider das Vergessen erinnerte das 4. Philharmonische Konzert am Sonntag im Schloß mit Werken Gideon Kleins und Victor Ullmanns nicht allein an zwei Komponisten, die direkt der irrsinnigen nationalsozia­listischen Rassenpolitik zum Opfer fielen, sondern bezog auch jene mit ein, die – wie Schönberg – ihr Leben durch Emigration zwar retten konnten, deren Werke später und selbst heute noch schwer Fuß fassen konnten.

Auch wenn man sich in Deutschland generell schwer tut mit der sogenannten Vergangenheitsbewältigung: Ist es nicht auffällig, wie wenig ein Publikum selbst 1997 mit einem Werk wie Schönbergs Survivor from Warsaw op 46 umzugehen weiß? Dem eigentlich gerin­gen Umfang des Werkes zum Trotz, stellt es große Anforderungen – nicht nur an die Musiker –, weshalb die Idee, es sowohl an den Anfang als auch an das Ende des Konzertes zu setzen, sicherlich nicht nur dramaturgischen Gesichtspunkten entgegenkommt, sondern quasi erzieherisch auch sein Verständnis erleichtert.

Schönbergs 1947 entstandenes Werk, das mit seiner unmittelbaren Ansprache den Hörer direkt zu treffen vermag, verfehlte auch diesmal seine Wirkung nicht. Walter E. Gugerbauer ließ die Kieler Philhar­moniker schönbergs abstrakt-tonmalerischen Widerpart zum Sprech­gesang scharf-konturiert ausleuchten und dramatisch schlüssig auf den Kulminationspunkt, den choralartigen traditionellen jüdischen Gesang Shem’a Yisroel zulaufen. Die Herren des Städtischen Chores (Einstudierung Frank Meiswinkel) überzeugten dabei ebenso, wie Baßbariton Monte Jaffe als Sprecher, der sich allenfalls bei den Befehlen des Feldwebels noch mehr einem extrovertierten Realismus hätte hingeben können. Schade auch, daß sein Deutsch nicht so deutlich wie sein Englisch ist.

An Textdeutlichkeit ließ es auch Laura Nykänen als Solistin der Kindertotenlieder Gustav Mahlers fehlen. Wer dier Lyrik Rückerts nicht kannte oder den Text nicht mitlesen konnte, dürfte schwerlich auch nur ein Wort verstanden haben. Ein Handicap, das Nykänen mit ihrem samtwarmen, gleichsam abgeblendeten Mezzosopran reichlich zu entkräften verstand. Der im besten Sinne innigen Interpretation, in der Schmerz und Trauer wie in stiller Ohnmacht glommen, verhalf nicht zuletzt das subtile und kultivierte Spiel der Kieler Philharmoniker – gerade in den Holzbläsern – zu großer Ausdruckstiefe.

Die Streicher konnten ihre Qualitäten an Gideon Kleins Partita für Streicher demonstrieren, eine Bearbeitung des in Theresienstadt entstandenen Streichtrios. Die Bearbeitung Saudecks kommt ohne Eingriffe in den Notentext natürlich nicht aus, führt diese jedoch durchaus behutsam aus und verbleibt zudem im gleichen Medium: den Streichern. Der Vorteil einer solchen Umarbeitung ist natürlich, daß über dem begrenzten Kreis der Liebhaber von Kammermusik hinaus sich ein größeres Publikum ansprechen läßt, welche ohne das eigentlich gar nicht sonderlich schicksalhaft wirkende Werk zweifellos ärmer wäre.

Das gleiche läßt sich zwar auch von Ullmanns Symphonie Nr. 2 sagen, doch mischen sich in die Bewunderung für eine größtenteils durchaus natürlich klingende Bearbeitung doch auch leise Zweifel. Denn das Autograph der 7. Klaviersonate Ullmanns, auf die Bernhard Wulffs Bearbeitung sich bezieht, offenbart eine recht komplizierte Genese, wobei sowohl der Notentext selbst als auch die vereinzelten Instru­mentationsangaben teilweise nur fragmentarisch erscheinen. Von einer „Rekonstruktion“ kann insofern nur bedingt gesprochen werden, und in der Tat erscheint die Orchesterfassung Wulffs nicht immer konsequent.

Gleichwohl ist das 4. Philharmonische Konzert eines, das im Hörer lange nachschwingt und wohl keinen unberührt entläßt. Und was kann man von einem Konzert – es wird heute um 20 Uhr im Kieler Schloß wiederholt – noch mehr erwarten?

MATTHIAS LEHMANN

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