Kieler Nachrichten, 27.06.1994
Die Kieler Philharmoniker gaben ihr letztes Konzert der Saison
Sinfonische Seestücke sensibel koloriert
Fritz steht im Mittelpunkt. Wir kennen ihn zwar besser als Frederick Delius, aber seine deutschstämmigen Eltern nannten ihn eben Fritz. Um ihn — genaugenommen um sein Stück Sea Drift — dreht sich das 9. Philharmonische Konzert, von ihm gehen die thematischen Bezugslinien aus, die Klauspeter Seibels Programm im Innersten zusammenhalten, das heute abend um 19 (!!!) Uhr wiederholt wird.
Los geht’s im Kieler Schloß mit Felix Mendelssohn-Bartholdys Konzertouvertüre Meeresstille und glückliche Fahrt. Das Werk ist zum Vergleich zur Delius-Komposition, ebenfalls einem Seestück, außerordentlich tauglich. Daß in Mendelssohns Ouvertüre das Meer ganz im Rahmen der beherrschten und bezähmbaren Natur bleibt, auch wenn es hier und da mal turbulent wird, das macht das Kieler Philharmonische Orchester unter Klauspeter Seibels Leitung erfahrbar. Gewiß, einerseits wird hier mittels bewegter Dynamik und üppiger Farbigkeit romantisierende Klangmalerei betrieben. Aber andererseits trägt GMD Seibel mit klassischer Strenge in den Tempi wie in der Diktion Mendelssohns „Disziplinierung“ der Natur Rechnung. Die Spannung zwischen weit ins 19. Jahrhundert vorausweisender „romantischer“ Malerei und rückblickender „klassischer“ Form macht einen großen Reiz dieser Interpretation aus.
Dann folgt — auch im Blick auf seine Oper Romeo und Julia auf dem Dorfe, die gerade im Opernhaus läuft — Frederick Delius’ Sea Drift für Bariton, Chor und Orchester nach einem Gedicht von Walt Whitman. Hier ist das Meer nun eine ganz andere Instanz: eine gewaltlose Naturgewalt, eine Kraft des Werdens und Vergehens, ein Medium des Trauerns und Hoffens. Die aus wellenartigen Motiven zusammengesetzte, in großen Wogen heranflutende und verebbende Musik, die Klauspeter Seibels Philharmonikern mit Sorgfalt im Detail und viel Gefühl für die Atmosphäre so gut von der Hand geht — sie umspült ihr Publikum geradezu mit ihren organisch formierten, raffiniert-suggestiven Jahrhundertwende-Klängen.
Bei aller vollsinnlichen Üppigkeit klingt diese Musik aber nie sentimental oder gar kitschig. Neben dem Intensität und zugleich Stabilität vermittelnden Orchester liegt das natürlich auch am Solisten und am Chor. Der Bariton Dietrich Henschel von der Kieler Oper ist eine ideale Verkörperung des im Text sich aussingenden Knaben, der einen um seine Partnerin trauernden Wasservogel behutsam beobachtet. Denn Henschel verbindet eine jugendlich reine, betörend lyrische, dabei durchaus kräftige Stimme mit einer natürlich zurückhaltenden Darstellung und einer bezwingend einnehmenden Ausstrahlung. Und der von Frank Meiswinkel einstudierte Städtische Chor erweist sich trotz seines Umfangs als bewegliches, dynamisch flexibles, klanglich einfühlsames Ensemble, dem nur der (englische) Text recht unverständlich von den Lippen kommt.
Aus Sergej Prokofjews Romeo und Julia-Ballettmusik, aus den drei bekannten Ballettauszügen, hat Klauspeter Seibel selbst ein dreiviertelstündiges Panorama zusammengestellt. Prokofjews unerhörte Klangraffinesse und seine treffende Charakterisierungskunst, die lyrischen und die zerrissenen Seiten der Musik, ihre unmittelbare Ausdrucksintensität und ihre Tiefe — derlei machen die Kieler Philharmoniker unter Klauspeter Seibel in diesem Konzert hörbar. Sie setzen — bei nur selten zu Tage tretenden rhythmischen Koordinationsproblemen — mehr auf Transparenz des musikalischen Geschehens als auf plakative Überwältigung. Die drastischen Gegensätze, auf die hin diese Suite angelegt ist, kammen dabei umso besser zu Gehör. THOMAS KAHLCKE