Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 03.01.1991

Das Kieler Neujahrskonzert:

Offenbarung im Finale

Was wäre Neujahr ohne Neujahrskonzert? Andernorts reicht man zu diesem Anlaß leichte musikalische Kost: Walzer und Operette, populäre Opern- und Ballettmusik. In Kiel aber will es der Brauch, daß man nicht gleich wieder so unbesonnen und ausgelassen das Jahr beginnt, wie man das vorige gerade zurückgelassen hat. In der Landeshauptstadt pflegt man sich mit der massiven musikalischen Unterstützung von Beethovens Neunter zu den guten Vorsätzen zu bekennen, die im Schlußsatz der Sinfonie zu Wort und Ton kommen.

Aber genau genommen ist die Neunte ja alles andere als pure „hohe Kunst“ im Sinne elitären Selbstvergessens, das sich von Gemeinverständlichkeit und Eingängigkeit distanziert. Im Gegenteil: Das Besondere an dieser Sinfonie besteht gerade darin, daß sie ganz verschiedene musikalische Ebenen einbezieht und verarbeitet und somit populär sein will, ohne sich anzubiedern. Gebrauchsmusik (beispielsweise der Marsch im Finale), Volkslied (etwa das Freude-Thema) und Kunstmusik verbinden sich zu einem Mammutwerk, mit dem sich jeder identifizieren, von dessen sozialpolitisch motivierter Schlußhymne sich jeder angesprochen fühlen soll.

Die gute Sache hatte beim Kieler Neujahrskonzert bisher nur einen Haken, der so traditionell war wie das Programm selbst: die Uhrzeit. Damit ist jetzt Schluß. Das Konzert wurde von elf Uhr auf den frühen Abend verlegt — und es darf berichtet werden, daß es dadurch nur gewonnen hat. GMD Klauspeter Seibel nahm den Stab diesmal selbst in die Hand, und auch dies schlug nur zum besten für das ehrwürdige Unternehmen aus.

Seibel ging den Kopfsatz mit dem Philharmonischen Orchester kernig an, vertrieb damit auch rasch eine Reihe von Unpäßlichkeiten, die manchen Musiker anfangs noch zu plagen schienen. Geradezu aufregend war zu hören, wie die Steigerungen und Kulminationen konsequent aus den Ausdruckswerten der Einzelmotive entwickelt wurden. Diese luden sich allmählich mit Energie auf und wurden in einen zwingenden dramatischen Prozeß von Spannung und Entspan­nung verwickelt.

Die einprägsame Drastik des 1. Satzes sollte man über dem eben­falls zügigen und kraftvollen 2. und dem gar nicht mal sehr langsamen 3. Satz nicht mehr vergessen: Seine dramatische Atmosphäre strahlte bis zum Finale-Beginn aus. Das ging allerdings zu Lasten des Adagios. Zwischen die Fronten der in ihrer Gegensätzlichkeit so markant ge­stalteten Ecksätze geraten, wirkte es etwas unprofiliert, wenig eigen­ständig im Ausdruck. Dies war vor allem auf die undifferenzierte und in ihrem Grundwert zu laute Dynamik zurückzuführen. So kam das Adagio einem eher wie ein Vorspiel zur Einleitung des Finales vor — nicht zuletzt, weil Seibel den Schlußsatz attacca, also ohne Pause anschloß.

Und dieses Finale geriet dann zur großen Offenbarung des Abends. Es gab da Dinge zu hören, die man in diesem Rahmen selten so beharrlich durchleuchtet, so engagiert präsentiert bekommt. Klauspeter Seibel deckte die ganze Vielschichtigkeit des Satzes auf, zelebrierte ihn nicht im Stil eines zielstrebigen Endspurts, mit dem uns mancher Dirigent die dort angesprochene Utopie von Frieden und Freiheit als wohlfeile Ware vorzumachen trachtet, sondern als kom­plexes Gefahrgut, dem man sich aufmerksam und gewissenhaft zu nähern hat.

Der Chor, von Imre Sallay mehr als gewissenhaft vorbereitet, ver­mochte den Ereignissen durch klangliche und dynamische Nuancie­rung völlig überzeugend musikalischen, nicht nur textuellen Sinn zu geben. Das Orchester ließ sich zu Konturen und Farben inspirieren, die etwa dem Marsch ein gänzlich unmilitärisch-duftiges, dem Klang­gebilde „Über Sternen“ein abgehoben-irisierenden Pianissimo-An­sehen gaben. Da fragte man sich nur, warum die Solisten bis hin zur Bitterkeit grimmig sangen: Graciela von Gyldenfeldt stellte mit markig-lautem Sopran Marita Dübbers‘ warm timbrierten Alt des öfteren ins Abseits, Horst Gebhardts kraftvoller Tenor klang energisch und, wie Roar Wiks Bariton, stramm und robust.

Am Ende gab es stehende Ovationen von einem offensichtlich überzeugten und hoffentlich für Beethovens hier so trefflich vertre­tene Sache empfänglichen Publikum. THOMAS KAHLCKE

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