Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 25.06.1990

Das 9. Sinfoniekonzert rückte Sibelius‘ Werk „Kullervo“ in den Blickpunkt

Musikalisches Energiepaket voller Überraschungen

Mit einem wuchtigen Schlag fängt es an, mit einem donnernden Furioso hört es auf. Dazwischen: eine aufregend zelebrierte Vielfalt der Erscheinungen, ein zweieinhalbstündiges Energiepaket voller Überraschungen beim letzten Konzert des Kieler Philharmonischen Orchesters. Der Norweger Edvard Grieg und der Finne Jean Sibelius waren beide Mittzwanziger, als sie die Werke schrieben, die hier zusammengestellt sind. Beide suchten nicht nur nach einer eigenen nationalen Tonsprache, sie setzten sich auch zwischen die Stühle der traditionellen Formen: Griegs Klavierkonzert a-Moll opus 16 tendiert ohrenfällig zur Fantasie, Sibelius Kullervo changiert zwischen Sinfonie und sinfonischer Dichtung. Und dieses Suchen nach national-kultu­reller Identität hat sich den Stücken mit leidenschaftlichen Zügen eingeschrieben.

Die zarte, sensitive Seite dieses Temperaments ist die Stärke der jungen Pianistin Heidrun Holtmann. Sie spielt den Grieg mit Samt­handschuhen, die zwar auch mal kräftig zulangen können; während es dort aber — spürbar besonders im letzten Satz — noch an letzter Kraft und markantem Zugriff fehlt, um die erforderliche rhythmische Prägnanz zu erreichen, entwickelt die Pianistin in leiseren Gefilden bei höchstdiszipliniertem Anschlag ein farbenreiches, lyrisches Spiel ohne jeden Nachdruck. Hinzu kommt eine intelligente Dramaturgie der Kräfteverhältnisse, wie sie besonders in der weniger die Virtuosität als den Spannungsverlauf in den Vordergrund stellenden Kadenz des Kopfsatzes erfahrbar wird. Zugabe: ein Schubert-Improptu.

Unter der Leitung von GMD Klauspeter Seibel finden die Kieler Philharmoniker zu einer solide ausformulierten Stabilität, der sich die Solistin hellhörig anschmiegen mag. Am deutlichsten wird die Sorgfalt dort, wo das Orchester — wie zu Beginn des Adagio — voller selbst­bezogener Ruhe seine Stimme entfaltet, frei ausschwingt, und Seibels Klangregie das bewegte Innenleben des Satzes zur Geltung bringt.

Wer in den Ecksätzen das Gefühl hatte, das Orchester spare bei Grieg noch ein wenig an Energie, der wird bei Sibelius‘ monumentalen Kullervo den Grund erfahren haben: Hier wurde alles gebraucht, was an Reserven zu mobilisieren war. Für viele Zuhörer wird dieses Werk, das die tragische Geschichte des Titelhelden halb erzählt, halb drastisch ausmalt, eine mitreißende Neuerfahrung sein — für einige war die am Sonntag so erschreckend, daß sie lautklappernd den Saal verließen. Dabei ist frappierend, wie Seibel das weit über einstündige Opus, dem immer wieder gähnende Längen vorgeworfen werden, packend in Form bringt. Da sind zunächst der resolute Schwung, mit dem musiziert wird, die immer neue Schichten einbringende Klangviel­falt und eine Intensität, die noch ganz am Schluß gewaltige Span­nungsballungen zustandebringt; da ist eine überlegene Formgebung, die selbst widerspenstigen Gebilden wie dem ausladenden ersten Satz klare Übersichtlichkeit abgewinnt; da ist schließlich die Klarheit der Konturen auch im Kleinen, die profilierte Artikulation etwa der archaischen Rhythmen im monströsen dritten Satz, die größte Deut­lichkeit selbst noch im Verein mit Solisten und Chor gewährleistet. Diese tragen denn auch zum hochdramatischen Gesamteindruck entscheidend bei: Der finnische Männerchor Laulu-Miehet und die Herren des Städtischen Chores Kiel, die in 84fachem Unisono dyna­misch flexibel bleiben, die Sopranistin Soile Isokoski, deren lyrische, dunkel eingefärbte Stimme die Tragik der Handlungsfigur vermittelt, und Jorma Hynninen mit seinem kräftigen, gleichwohl klanglich sen­sibel modifizierenden Bariton.

Am Ende mehr erschütterter als frenetischer Applaus eines offen­sichtlich berührten Publikums. THOMAS KAHLCKE

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