Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 26.06.1989

Letztes Konzert des Philharmonischen Orchesters Kiel mit Poulenc und Orff

Was Liebhaber freut und Kenner nicht reut

Müßte man ein deutsches Werk der sogenannten „E-Musik“ nen­nen, das in unserem Jahrhundert entstand und dennoch begeisterte Zustimmung breiter Hörerkreise gefunden hat, fielen einem spontan wahrscheinlich Carl Orffs Carmina Burana ein. (Beim Wort dennoch sieht man die Geister der großen alten Komponisten natürlich amü­siert mit dem Kopf schütteln.) Im neunten und letzten Sinfoniekonzert des Philharmonischen Orchesters Kiel wurde das 1936 entstandene Werk, das auch ohne Szenerie bunt, bildhaft, szenisch wirkt, mit Francis Poulencs zwei Jahre später komponiertem Konzert für Orgel, Streicher und Pauken kombiniert. Auch dieses Stück spricht den Lieb­haber an, ohne den Kenner zu langweilen — aber damit taten sich die Franzosen, nicht zuletzt in unserem Jahrhundert, ohnehin leichter als manche ihrer Kollegen hierzulande.

Poulencs Konzert, zur Eröffnung vom ehemaligen Gewandhaus­organisten Matthias Eisenberg und dem Philharmonischen Orchester unter Klauspeter Seibels Leitung mit Verve musiziert, scheint gleich in der ersten zwei, drei Minuten die letzten Jahrhunderte der Musik zusammenzufassen, spielt mit den Idiomen vergangener und zeitgenössischer Stile oder Gattungen, wirft musikalische „E“- und „U“-Schubladen gründlich, geistvoll und erfrischend durcheinander. Da kippte Weihevolles ins Frivole um, wird demonstriert, daß die Orgel nicht nur Spenderin sakraler Aura ist, sondern auch gepanzertes musikalisches Schlachtschiff oder lyrisches Melodieinstrument. Eisenberg zog alle Register seines Könnens und der Orgel im großen Saal des Kieler Schlosses, kannte, wie’s das Stück fordert, keine Stilskrupel.

Ganz unumstritten sind Orffs Carmina Burana trotz des jahrzehnte­langen Publikumszuspruchs nicht gewesen. Manchen waren sie — aus ganz unterschiedlichen (und unterschiedlich ehrenhaften) Gründen — zu eingängig, manchem wirkte das sogenannte „Elementare“ daran suspekt, ja primitiv. Für die prall, zügig und lustvoll musizierte Kieler Aufführung hätte man sich vor diesem Hintergrund eine weniger pauschale Werkeinführung des Programmheftes und beispielsweise ein paar Bemerkungen gewünscht, wie das 1937 uraufgeführte Werk zu seiner — der erwähnten bösen — Zeit stand. Außerdem hätte man neben der deutschen Übersetzung natürlich den wahren Wortlaut des zwischen drei Sprachen wechselnden Textes abdrucken müssen.

Seibel hielt die Menge der Mitwirkenden — neben dem Orchester also den Städtischen Chor Kiel (Einstudierung: Imre Sallay), den Opernhaus-Kinderchor (von Irene Lensky vorbereitet) sowie die Solisten — fest im Griff, setzte auf straffe Tempi, auf wirkungsvolle Direktheit — was vielleicht auch damit zu tun hat, daß die Einstudie­rung am Donnerstag für die Ballettpremiere der Carmina Burana übernommen wird, wo die Musik mehr dienende Aufgaben übernimmt. Der Städtische Chor war mit Elan und Bestimmtheit bei der Sache und fast immer auf der Höhe des Geschehens (sieht man davon ab, daß in Floret silva die davonreitenden Liebhaber so ins stolpern kamen, daß die klagenden Frauen sie — mit etwas gutem Willen! — hätten einfan­gen können). Doch sonst blieben der Chor und ebenso der treffliche Kinderchor der Partitur nichts schuldig.

Die Philharmoniker steuerten ihren ebenso wichtigen Anteil am Geschehen bei; gerade am Instrumentalpart erkennt man ja, daß das Werk nicht lediglich „elementar“-naiv ist, sondern facettenreiche Musik über Musik und ihre Geschichte. Thomas Mohr (Bariton) kombinierte in seinem Singen Genauigkeit mit Emphase; daß Orff die Stimme an Höhengrenzen führt, merkte man ihm indes an. Tibor Toth (Tenor) trug die Klage des gebratenen Schwanes keineswegs überzogen, fast etwas verhalten vor. Empfindungsstärke und makellose Reinheit ver­lieh Valerie Errante (Sopran) ihrer Partie. Dem gelungenen Saison­ausklang folgte üppiger Applaus — dies dürfte heute abend kaum anders sein. MICHAEL STRUCK

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