Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 03.01.1985

Feuertrunken ins neue Jahr

Beethovens Neunte unter Klaus Weise im Kieler Schloß

KN: DETLEF BRANDENBURG   Kiel

Feierstundenmentalität — so oder ähnlich wird immer mal wieder über den Brauch gespottet, Beethovens Neunte zur Weihe würdiger Stun­den aufzuführen. Doch wer so spottet, verkennt den für die Gattung Symphonie bestimmenden Doppelcharakter von Form und Ethos, zumal hier, wo das gesungene Wort, das „Programm“, der Fluchtpunkt auch der formalen Entwicklung ist. Das Konzertpodium wird zur „mo­ralischen Anstalt“, Musik zur öffentlichen Botschaft. Und so braucht man sich gar nicht zu scheuen, die Neunte in diesem Sinne „Feier­stundenmusik“ zu nennen. Schlimmer wäre es, die Feierstunden den Berufsrednern zu überlassen, und so war Beethovens Freudenbot­schaft, verkündet vom Chor und vom Philharmonischen Orchester der Stadt Kiel unter Klaus Weises Leitung, auch am Neujahrstag 1985 ein wohltätiges Korrektiv zu mehr landläufigem Optimismus.

Weise integrierte die programmatische Botschaft überzeugend in den formalen Gesamtzusammenhang des Werkes. Die ersten Sätze gab er, wenn man so sagen darf, als „absolute Musik“: Gemäßigtes Tempo (ma non troppo) und eine sauber nach Themen und Motiven durchgearbeitete dynamische Disposition gaben im ersten Satz Gelegenheit, die musikalischen Elemente aufzuspüren. In der subtilen Klarheit der Durchführung, die durch einige weniger subtil artikulierte Holzbläsersätze allerdings manchmal getrübt wurde, war die musika­lische Entwicklung mühelos nachzuvollziehen, und mit der Wiederkehr des Hauptthemas kam der donnende, vielleicht allzu markerschüt­ternde Höhepunkt dieses Satzes.

Im Scherzo gelang eine gekonnte Steigerung von differenzierter Fugato-Präsentation des Themas zu rhythmischer Vereinigung der Stimmen im pointierten, straffen Dreier-Takt. Der in wunderbar organischem Tempo genommene langsame Satz geriet vor allem den auch sonst sauber agierenden Streichern durch wahrhaft „atmende“ Phrasierung und durch feine Klangdifferenzierungen zu einem kleinen Meisterstück.

Und dann, nach einer etwas dünnen „Schreckensfanfare“, kam in gekonnter dramatischer Gestaltung die Krisis der Neunten: Mit macht­voller Gestik fuhren die Rezitative der Celli und Bässe in die Zitate der vorangegangenen Themen, bis zaghaft das berühmte Freudenthema erklang. Ganz zart und verhalten gestaltete Weise es in den Strei­cher-Wiederholungen und erhielt so die Spannung bis zum Forte-Ein­satz der Bläser. Dann allerdings war der Bann gebrochen, und wie hier die formale Disposition des Werkes in der Programmatik der „Bot­schaft“ aufgeht, so ging Weises Interpretation im Freudenjubel auf.

Mit wohlklingendem Baß forderte Hans-Georg Ahrens „freudenvol­lere Töne“, und er war auch sonst eine klangvolle Stütze des Soli­stenquartetts, in dem Awilda Verdejos klarer, kräftiger Sopran domi­nierte. Im phantasieartigen Poco Adagio-Satz allerdings hatte sie etwas Mühe, ebenso wie Raimo Sirkiä mit seinem sehr weichen Tenor; sein Solo im Alla Marcia-Teil allerdings gelang ihm ausgesprochen gut. Marilyn Founds klarer Mezzo setzte sich nur schwer durch im Quartett.

Der von Martin Pickard ausgezeichnet einstudierte Chor glänzte vor allem in Sopran und Alt. Machtvoll brachte er die vielen homopho­nen Partien und agierte in der Doppelfuge temperamentvoll und diffe­renziert. Die vorhergehende Passage allerdings, wo ein Pianissimo-Nonenakkord die Entrücktheit des „über Sternen“ wohnenden Schöpfers versinnbildlicht, hätte noch zarter, noch körperloser ausfallen können.

Das Zusammenwirken der Klangkörper war ausgezeichnet. Besonders beeindruckend gelang die zwischen Chor und Orchester vorzüglich abgestimmte affekt-geladene Deklamation des Andante maestoso („Seid umschlungen, Millionen“). Und so war der Jubel des Schlußsatzes, mit dem Weise das neue Jahr begrüßte, gewiß feuer­trunken, aber gewiß nicht formlos — auch wenn am Ende, beim Pres­tissimo, die Götterfunken in wahrhaft ekstatischen Piccolo-Klängen geradezu zum sprühenden Silvesterfeuerwerk wurden.

Zuletzt geändert am