Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 09.12.1985

Musikalische Genesis

Kieler Symphoniekonzert mit Haydns Oratorium „Die Schöpfung“

Lang, lang ist‘s her. Selbst gestandene Konzertgänger entsinnen sich nicht, wann Joseph Haydns Oratorium Die Schöpfung zum letzten Mal in Kiel aufgeführt wurde. Die Antwort schlummert in Archiven. Las­sen wir sie da. Hans Zanotelli, der Musikchef dieser Stadt, erschafft das Werk ja sozusagen neu, belebt dessen Wertschätzung durch eine hörenswerte Aufführung, die gestern im Kieler Schloß vom Publikum dankbar angenommen wurde und heute abend wiederholt erklingt.

Haydns Schöpfung reflektiert noch einmal, spät im Jahr, die Nach­wirkung eines unserer Musikjubilare von 1985, nämlich Händels. Es war Händel, der den Wiener Meister beeindruckte, Haydn, ein Mann in den Sechzigern, hörte in London zum ersten Male die gewaltigen Oratorien des Mister Handel. Dieses Erlebnis, dazu Wünsche von außen stachelten ihn an, ans große Werk zu gehen. 1798 wurde Die Schöpfung uraufgeführt; 1801 folgten Die Jahreszeiten.

Haydn und Händel — dazwischen wirkt Verehrung, nicht Nachah­mung. Die großen Chöre der Schöpfung klingen zuweilen wie eine Hommage an den Älteren. Der Städtische Chor Kiel, einstudiert von Martin Pickard, singt sie mit mächtiger Klangentfaltung, sicher in den imitatorischen und fugierten Teilen, sehr gut abgestuft in den Laut­stärken — zum Beispiel in dem Dich beten Erd‘ und Himmel an, das auf eine organisch aufblühende Weise aus einem leisen Anfang heraus­wächst. Ein Chorsatz wie Stimmt an die Saiten, ergreift die Leier freilich hat gar nichts mehr mit Händel zu tun, ist reine Klassik. Da verwirk­lichen Sänger und Orchester das klassische Klangideal des federnd Festen und gewichtig Leichten, wie es außer Haydn wohl nur noch Mozart aufschreiben konnte.

An Mozart mag man gelegentlich denken. Wenn Gabriel und Uriel Zu dir, o Herr, blickt alles auf singen, nur von Holzbläsern begleitet, dann sind Freimaurerthemen Mozarts nah, Töne der Zauberflöte. Auch Haydn war ja Freimaurer. Die Erzengel indes haben vielfältige musi­kalische Aufgaben. Sie berichten, sie kommentieren, sie erweisen sich als fühlende Wesen, deren Empfindungen wir teilen können. Später gar verwandeln sie sich in Adam und Eva. Besetzt sind die Solo-Par­tien mit Solisten aus dem Kieler Opernhaus. Hans Georg Ahrens singt den Raphael ganz im Stil des seriösen Basses, besonnen wie ein Zarastro. Als Adam wirkt er dann — auch das muß man ja können — sanfter, zurückhaltender, dem Duettieren mit Eva einfühlsam nachspü­rend. Eva und Gabriel sind dankbare Partien für die vielseitige Hedi Klebl. Ihr leichter Sopran vermittelt auf unangestrengt kunstvolle Art etwas von jener Sorglosigkeit, die in ihrem Text beschrieben ist: Noch war zur Klage nicht gestimmt/Ihr reizender Gesang. Der japanische Tenor Koichi Maeda erfaßt recht genau Uriels lichten, ja fröhlichen Charakter.

Hans Zanotelli liebt die langsamen Tempi. Die Vorstellung des Chaos geschieht unendlich gedehnt, und auch später gilt die ruhig ins Auge gefaßte kantable Linie, gelten deutlich artikulierte Nebenstimmen dem Interpreten viel. Effektvoll Hingehuschtes ist Zanotellis Sache wahrlich nicht. Er inszeniert die Entstehung der Welt mit einer Ahnung vom Alter der Welt, Licht und Finsternis treffen dramatisch aufeinander, und die vielen tonmalerischen Erfindungen des Komponisten — vom Sternenlauf bis zur Wurmwindung — zeichnet er mit seinem aufmerk­samen und klangschön spielenden Orchester liebevoll nach. Vielleicht könnte dieses oder jenes Stück in den rund hundert Minuten Auffüh­rungsdauer spannungsvoller sein, nicht aber freundlicher ausgeformt. ROLF GASKA

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