Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 11.02.1985

Ewiges Gericht und ewige Erlösung

5. Kieler Symphoniekonzert: Verdis „Requiem“ unter Klaus Weise im Schloß

KN: ROLF GASKA   Kiel

Giuseppe Verdi, der geniale Opernkomponist, hat sein Requiem geliebt, und viele Menschen teilen noch heute diese Liebe — oder werden dazu erweckt. Eine so prachtvolle Aufführung wie die Kieler, eingefügt in den Zyklus der Symphoniekonzerte, gewinnt dem Werk mit Sicherheit neue Freunde. Am Sonntagmorgen herrschte große Spannung und Freude im Kieler Schloß, und heute abend wird es wohl kaum anders sein.

Klaus Weise holt aus dem Requiem alle dramatischen Impulse, die in der Komposition stecken. Die Sturzgewalt des dies irae kommt wie ein Wetter über die Menschen, als entfesselter Klang. Beim tuba mirum schmettert das Blech tetraphonisch von Podium und Rang. Das sanctus klingt fast ein wenig ausgelassen und endet mit einem ge­waltigen Stretta-Effekt. Und im libera me peitscht Weise die Gefühls­woge zu einem riesigen Tutti-Fortissimo hoch.

Man mißverstehe diese Charakterisierung nicht als Äußerung des Unbehagens. Im Gegenteil: Verdi verträgt die theatralische Geste. Hans Kühners im Programmheft abgedruckte Wertung, das Requiem sei Verdis „siebenaktige Oper“ des ewigen Gerichts und der ewigen Erlösung, trifft den Sachverhalt. Das Urteil zielt nicht ins Negative, sondern bejaht die insgeheime Einheit des Religiösen und Weltlichen, die in großer Kunst anschaulich und erfahrbar wird. Im übrigen geht es ja nicht nur laut und effektvoll zu. Weise setzt aus dynamischen Kontrasten, aus farblichen Stimmungen und natürlich auch aus dem gesungenen Wort vielfältige musikalische Spannung frei, wenn auch vielleicht mehr im Stil des Alfresco — das heißt in der Art, wie man große Bilder malt: Formen zusammenfassend.

Der Städtische Chor, sorgfältig einstudiert von Martin Pickard, fügt sich glänzend in die Szene ein: Stark, aber ausgewogen besetzt, präzis in seinen Aktionen, eindeutig in der angestrebten Klangwir­kung, monumentalisiert er gleichsam die Inhalte des Requiems, auch die musikalischen. Zusammen mit der engagierten Orchesterarbeit, die, obgleich ebenfalls aufs Monumentale gerichtet, selbstverständlich weitaus diffiziler ist, finden Sänger und Musiker zu einem schlüssigen Ergebnis.

Doch der in Kiel wahrscheinlich unwiederholbare Glücksfall der Aufführung ist die Zusammensetzung des Solistenquartetts: alles Verdi-Stimmen von Geblüt. Awilda Verdejo reicht mit ihrem rassigen Sopran noch über die Klangmassen von Chor und Orchester: Ihr libera me ist an Suggestion, Kraft und Schönheit wohl kaum zu übertreffen. Jane Henschel, die wohl nur wenige Kieler (wenn überhaupt) kennen, erweist sich als ein Mezzo von außerordentlichem Stimmumfang: weich und voll in der Alt-Tiefe, glockenrein in der Höhe, ausgestattet mit einem wohlklingenden Piano und einem riesigen Forte-Volumen. Duettierend, besonders eindrucksvoll im agnus dei, entfalten die beiden Frauenstimmen eine wunderbare Wärme, ja einen spirituellen Glanz, der dann im lux aeterna das musikalische Jetzt ganz durch­strahlt. Chris Merritts herrlicher Tenor, seit den Kieler „Puritanern“ hoch in Ansehen, kommt groß ins Bild. Und ein Sänger, der gar nicht vorgesehen war und dann einsprang, der junge Amerikaner Rodney Godshall, bringt einen schlanken, doch kraftvollen und kultivierten Baß mit gutem Verdi-Timble ein.

Dass die Aufführung ihr Publikum mitreißt, hat wohl noch einen weiteren Grund: Sie wirkt ganz lebendig, ganz spontan, ganz aus dem Augenblick. Das ist Klaus Weises Handschrift.

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