Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 20.05.1986

Gegensätze im Geistlichen

Hans Zanotelli dirigiert Bruckners f-moll-Messe und Strawinskys Psalmen-Sinfonie

Ein Sinfonie-Konzert zu Pfingsten, das ist sozusagen ein Schnitt­punkt zwischen Kirchenjahr und Konzertsaison; und Schnittpunkte zwischen Sinfonischem und Sakralem markierte denn auch das Pro­gramm, das am Sonntag vormittag und nochmals gestern abend, beim 8. Konzert des Philharmonischen Orchesters der Stadt Kiel, diesmal verstärkt duch den Städtischen Chor, im Kieler Schloß zu hören war. Hans Zanotelli, der Kieler GMD, hatte klug ausgesucht und zwei Werke gegenübergestellt, die sich gerade in ihren Gegensätzen erhellen.

In Bruckners f-Moll-Messe gelingt noch jene unmittelbare Einheit von Subjektivität und objektivem „Material“, die die ganze Empfin­dungsfülle eines individuellen Ich in den tradierten Formen seiner Epoche zum Ausdruck bringt; ein Werk zudem, wo der musikalische Ausdruckswille hinausdrängt über die liturgische Bindung hin zur Sinfonie. Vorher jedoch war Strawinskys Psalmen-Sinfonie zu hören, gerade umgekehrt eine Rückbesinnung der Sinfonie auf das Sakrale, bei der die Objektivität traditioneller Formen dadurch erkauft ist, daß das individuelle Ich sich verleugnet, sozusagen hinter der Strenge des objektiven Prozesses verschwindet oder doch nur in der reflek­tierten Überzeichnung des Althergebrachten faßbar bleibt.

Fast schien es, als mochte Hans Zanotelli die archaische Strenge dieser Sinfonie nicht anerkennen. Da kamen zu Beginn die e-Moll-Akzente fast sanft, lyrisch beseelt wirkten die Sechzehntel-Ketten von Oboe und Fagott, bald darauf erklang das Terzmotiv-Gewebe der Holzbläser als zart fluktuierende Klangfläche. Es war beeindruckend, wie dieser einfühlsame Zugriff der Musik Valeur und Kulminations­punkte abgewann: Graziös und gelöst erklang die Fuge der Flöten und Oboen am Anfang des zweiten Satzes, in blockhafter Wucht sang der Chor die homophone Passage vom „neuen Lied“, in greller Aggressivität schmetterten die Bläser die Triolen-Klimax des dritten Satzes.

Aber zu fragen wäre, ob die steinerne Plastizität der Faktur, jenes Moment der Statik, auf das Christoph Caesar im Programmheft richtig hinweist, nicht hätte deutlicher hervortreten können, und ob nicht manches prägnanter hätte artikuliert werden müssen. Mitunter freilich war das auch eine technische Frage, wie sich an einigen asynchronen Choreinsätzen und Divergenzen zwischen Chor und Orchester („Lau­date dominum“-Achtel im Schlußsatz) zeigte.

Zanotellis Musikherz schlägt in romantischem Puls, das bewies vollends seine großartige Interpretation von Bruckners f-Moll-Messe. Da war zunächst die in der Präzision bestechende, in der Spannweite beeindruckende dynamische Disposition; Bruckners urplötzliche For­tissimo/Pianissimo-Kontraste, seine ausdrucksvollen Entwicklungs­bögen, die spannungsvollen Akzente, all das kam punktgenau und in stimmigen Relationen; und eine differenzierte dynamische Hierarchie im Orchester sorgte für klare Klangbilder. Nicht anders war es mit den Tempi, die im genauesten Verhältnis zueinander standen und auch über Generalpausen hinweg präzise gehalten wurden.

All dies wäre wohl kaum möglich gewesen ohne Martin Pickards sorgsame Choreinstudierung; seine Sänger(innen) agierten glän­zend: machtvoll in homophonen Ausbrüchen, differenziert in Fugen und Fugati, klar in zarten Kantilenen; etwas schwach besetzt wohl im Tenor, aber mit leuchtendem Sopranklang bis hinauf zum hohen B. Die Vokalsolisten ordneten sich bestens ein: Frieda Lindburg, ein drama­tisch timbrierter, strahlender Sopran; Marita Dübbers, ein kerniger, aber fein geführter Alt; Wolfgang Schmidt, ein lyrischer, dennoch kräftiger Tenor, der im Moderato misterioso des Credo ein schönes Solo sang; und Attila Kovacs‘ voller, klarer Baß.

Es gab zwar einige Trübungen im einzelnen (hauptsächlich im Zusammenwirken an den „Nahtstellen“ der Partitur), doch die ver­blaßten vor der Schönheit des Ganzen: das atmende Crescendo der Streicher zu Beginn des Kyrie; die kraftvolle Deklamation des Chores im Gloria-Mittelteil; im Credo die „cum gloria“-Klimax, die unter die Haut ging, und später die dramatische Fuge — das waren einige Höhe­punkte, musikalische Verdichtungen unmittelbarsten religiösen Emp­findens, von Zanotelli mit großer Einfühlung und Kompetenz darge­stellt. DETLEF BRANDENBURG

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