Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 03.01.1986

Eine Institution

Hans Zanotelli dirigierte Beethovens 9. Sinfonie im Kieler Schloß

Ähnlich wie Bachs Passions- und Weihnachtsmusiken ist Beetho­vens 9. Sinfonie vielerorts zu einer Art Institution geworden, die regelmäßig zur Jahreswende in Aktion tritt. Kieler Musikfreunde mußten beizeiten Karten erwerben; denn die Aufführung im Schloß war im voraus ausverkauft.

Natürlich stellt sich die Frage, ob bei solch regelmäßigem Umgang noch wahrnehmbar bleibt, welch schonungslos aufgewühltes und aufwühlendes, in seiner Klassik längst brüchiges, in seinen Brüchen zugleich weit in die musikalische Zukunft weisendes Werk hier zu hören ist. Nicht zuletzt der einigend seichte Verschnitt des Finaler­eig­nisses zum Song of joy zeigt ja, daß man sich erfolg- und ertragreich der Radikalität, der Mühe, die diese Sinfonie bis heute zeigt und fordert, entziehen kann, indem man Beethovens immer noch ferne Utopie trivialisiert. Daß man sich dann auch um ein ästhetisches Abenteuer betrügt, ist die rechte Rache des Werkes.

Der Gefahr zu großer Glätte entging Hans Zanotelli, der mit dem Philharmonischen Orchester und dem Städtischen Chor Kiel diese Aufführungstradition fortsetzen will, entschieden und überwiegend erfolgreich, wenn die Interpretation auch nicht schlackenlos war. Am schlüssigsten gelang der erste Satz, dessen Zerklüftungen Zanotellli mit überlegter Disposition anging. Er sorgte — nachdem anfängliche Probleme der Klangbalance (Blechbläser) schnell gelöst waren — für angemessene Präsenz der Stimmen, die sich vielfach überlagern, ja gegeneinander aufwerfen, arbeitete mit dem Orchester Gliederungs­punkte und Übergänge treffend heraus. Hier — wie später im langsamen Satz — stimmte auf erfreuliche Weise auch der Ausgleich zwischen thematischem Kern und umspielender Figuration, der bei vielen Aufführungen durch einförmiges Vorherrschen des Ornaments verdrängt wird.

Danach wurde die Aufführung disparater. Zu Recht setzte Zanotelli im Scherzo mehr auf Unerbittlichkeit als auf Rasanz der Bewegung, doch blieben etliche Differenzen im Zusammenspiel der Orchester­gruppen unüberhörbar. Nicht ganz zu klären schien auch, ob die reichlich fahrige Gestaltung, die der seraphische Beginn des langsa­men Satzes erfuhr, nur momentane Unkonzentriertheit war oder ob Zanotelli der so schwer erreichbaren Spannung innerhalb langsamer Bewegung gleich deutlicher zu ihrem Recht hätte verhelfen müssen.

Auch im weiteren Werkverlauf wären manche Wackelkontakte und Blindstellen vielleicht energischer zu vermeiden gewesen. Anderer­seits kamen die Bläserlinien zu ruhiger, klangschöner Entfaltung, erhielt das Filigran der Violinfigurationen überwiegend die notwendige Schwerelosigkeit.

Konfliktzuspitzung und Lösung wurden im Finale mit Nachdruck, wenn auch gelegentlich etwas pauschal demonstriert. Mit erfreulicher Deutlichkeit und Lebendigkeit verkündete der Städtische Chor (Ein­studierung Martin Pickard) Wort und Ton der Ode an die Freude; nur an einigen Phrasen-Enden zeigte der von Beethoven so stark geforderte Sopran leichte Mühen. Unter den Vokalsolisten hörte man von Sopra­nistin Frieda Lindburg im wahrsten Sinne des Wortes fast nur die gesungenen Vokale, nicht Worte. Janet Cobb (Mezzosopran) fügte sich zweckdienlich nahtlos ins Ensemble ein, während Wolfgang Schmidt (Tenor) zwar seinem Solo kräftigen Stimmglanz und fast militärisches Engagement gab, im Zusammenklang der Solisten indes manchmal zu stark dominierte. Uneingeschränkt überzeugte Hans Georg Ahrens, der der tragenden Baritonpartie mit stimmlichem Wohllaut und Bestimmtheit, doch auch mit der notwendigen Flexibilität Ausdruck verlieh.

Die Aufführung der Neunten war in dieser Interpretation sicherlich nicht durch glatte Routine bedroht. Daß die alljährliche Wiederaufnah­me zugleich die Intensität einer Neuerarbeitung erfordert, war als Problem, zumindest im Orchester, allerdings nicht bis ins letzte bewäl­tigt. Beifall und Blumen für diese Beethoven-Deutung. MICHAEL STRUCK

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