Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 04.01.1988

Farbkräftige Freude vor blasserem Hintergrund

Das Philharmonischem Orchester Kiel mit Beethovens „Neunter“ unter Klauspeter Seibel im Kieler Schloß

Natürlich unterliegt Beethovens Neunte, wird sie regelmäßig zur Jahreswende aufgeführt, der Verschleißgefahr (als Hörereignis, nicht als Kunstwerk) — mehr als Bachs Großwerke zu den Kirchenfesten, deren liturgische Funktion, und damit Wiederholbarkeit, von vornher­ein mitkomponiert war. So müssen die Ausführenden erwägen, ob bei der Neunten eine jährliche „Wiederaufnahme“ reicht, ob das an­spruchsvolle Werk nicht jedesmal neu einzustudieren ist. Und der Hörer, der sich mit klingenden Kulturgütern aufs neue Jahr einstimmen will, könnte bedenken, ob es Jahr für Jahr das gleiche Stück sein muß. Nimmt man jedoch dessen Humanitäts-Appell ernst, hält also eine kulturell-moralische Vitaminspritze zum Jahresanfang für notwendig, könnte man vielleicht auch einmal skeptisch überlegen, was nach der Botschaft der Kieler „Neunten ’87“ hierzulande so alles geschah bis zur nächsten „Neunten“…

Von musikalischem Interesse war die Aufführung 1988 im Kieler Schloß vor allem, weil sie erstmals vom neuen GMD Klauspeter Seibel geleitet wurde. Gegenüber den zwei Aufführungen unter Hans Zano­telli waren die Qualitäten, vereinfacht gesagt, genau andersherum verteilt: In den letzten beiden Sätzen lagen nach eher enttäuschen­dem Beginn diesmal beträchtliche Interpretations-Stärken, die ent­sprechenden Applaus hervorriefen. Daß die Aufführung zum guten Schluß kam, war zum einen Seibels klug vorausschauender, energi­scher, im Sinne der Werkaussage belebender Leitung zu danken, die im Finale vom Chaos-Beginn übers straff geführte Fugato und ein gewaltig-geschlossenes Seid umschlungen bis zum Schlußtaumel Ausführende und Hörende nicht mehr losließ.

Großes Verdienst hatte neben dem nun warmgewordenen Orche­ster der Städtische Chor — von Imre Sallay, wie es schien, hörbar gut trainiert und motiviert —, der mit merklicher vokaler Ausgeglichenheit, mit Engagement und Deutlichkeit Schillers Ode an die Freude verkünde­te. Daß sich das Werk nach Beethovens Plan endlich mit der menschli­chen Stimme an die Hörer wenden muß, wurde so doch noch über­zeugend plausibel gemacht.

Das galt auch für Falk Struckmanns Bariton-Einleitungsrezitativ, das nicht mit pathetischem Predigerton, sondern zu Recht mit dem Ungestüm vorgebracht wurde, das die Situation fordert. Kleine Höhenschärfen waren bedeutungslos: Beethovens Grenzüberschrei­tungen in Form, Besetzung und Spielanforderungen erlauben keinen selbstzweckhaften Schöngesang. Deshalb blieb Judith Beckmann (Sopran), die für die erkrankte Danuta Salska einsprang und vom Ruf her weit mehr als „Ersatz“ war, ihrer Partie etwas schuldig: Man hörte von ihr bei Spitzentönen oft nicht die in hoher Lage anstrengender zu artikulierenden Schiller-Worte, sondern nur bequemer zu singende Vokale (von diesem Sänger-„Trick“ war ihre Vorgängerin Frieda Lind­burg im Vorjahr erfreulicherweise abgekommen). Was der Schönheit des Einzeltones nützte, schadete also dem Sinn des Singens. Eher unauffällig lösten Marita Dübbers (Alt) und Wolf-Hildebrand Moser (Tenor) ihre Soloaufgaben — was im einen Fall an der Partie selbst, im anderen an deren Ausführung lag.

Schon der langsame Satz, der genauer und durchs bewegtere Tempo auch etwas nüchterner erklang als die letzten Male (was kein Manko sein muß), hatte die Wende der Wiedergabe zum Besseren angedeutet: Im ersten Satz war zwar anfangs die Klangabstimmung der Orchestergruppen weit besser als in den Vorjahren, doch das Zerklüftete, Zerrissene, „Faustische“ in und zwischen den Themen-, Motiv- und Ausdrucksschichten wirkte insgesamt eingeebnet, indem Seibel hier und da das Tempo raffte, einzelne Instrumentengruppen mitunter zu eindeutig (und dadurch einseitig) hervortreten ließ. Der Satz war sozusagen klassisch gezähmt und dadurch nivelliert.

Offenbar ist Seibel eher ein Interpret des schnellen Pulses, will musikalische Bewegungsenergie vorwiegend durch Zupacken und Straffen verdeutlichen, mag der eigenwilligen Schubkraft, die frei werden kann, wenn solche Musik sich nur präzise entfaltet, nicht allein vertrauen. Diesem Satz kam Zanotelli mit dem Orchester näher, gerade weil weniger „gemacht“ wurde (aus welchen Gründen auch immer). Und achtete man im Scherzo einmal nicht auf die Dirigier­gesten, die die Zeitordnung suggerierten, dann stellte man beim Hören konsterniert fest, wieviel zwischen den Instrumentengruppen im Detail nicht ganz zusammenging, hörte Differenzen, die zwar nicht verheerend, doch viel zu zahlreich waren.

Zur Konsolidierung oder einer möglichen Rangverbesserung des Orchesters gehört ja wohl vor allem Beständigkeit des Guten. Dazu gaben die zwei letzten Sätze mehr Hoffnung als der Beginn, so daß in der „Neunten ’88“ die farb- und ausdrucksintensive Schilderung der Freuden-Utopie vor einem teils verblaßten, teils verwischten Hintergrund zustande kam. MICHAEL STRUCK

Zuletzt geändert am