Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 03.01.1987

„Neunte“ unter einem guten Stern

Das traditionelle Beethovenkonzert unter der Leitung von Hans Zanotelli im Schloß

Als musikalisches Menschheits-Manifest eignet sich Beethovens 9. Sinfonie nicht gerade zur moralischen Gebrauchsmusik, die man all­jährlich bedenkenlos wiederholen kann: Mit den obligatorischen Neu­jahrswünschen durch Kanzler, Kollegen oder Kundenbetreuer unter dem Motto „Freude, Friede, Freundschaft“ hat sie wirklich wenig gemein, durchbrach sie doch in ihrer Entstehungszeit schonungslos Gewohnheiten von Werkdauer und Werkbesetzung und präsentierte sich in ihren kompositorischen Abgründen, Entrücktheiten und Utopien von Anfang an unabweisbar als Erlebens- und Ereignismusik im eigentlichen Sinne. Und Ereignisse wie Erlebnisse sind bekanntlich nicht einfach reproduzierbar. Soll Abnützung vermieden werden, müßte der Einmalikeitscharakter nach Möglichkeit zu seinem Recht kommen.

Die traditionelle Neujahrsaufführung der „Neunten“ im traditionell ausverkauften Konzertsaal des Kieler Schlosses fand zunächst unter weitgehend gleichen Bedingungen statt wie im Vorjahr, was Interpre­ten und Interpretationsansatz anging. (Daß einmal Norddeutschlands Orchesterchefs als Gastdirigenten in einer Art Rotationssystem ihre Auffassungen des herausfordernden Werkes vor fremdem Publikum vorstellten, könnte belebend wirken, erforderte aber natürlich man­chen Aufwand.) Unter solchen Vorzeichen kann man von einer im Vergleich zum Vorjahr merklich gelungeneren Darstellung sprechen. Der Bogen vom zerklüfteten Kopfsatz bis zum ekstatisch außer sich geratenden Schluß des Finales wirkte zwingender nachvollzogen als damals, zumal die Orchesterleistung diesmal deutlich ausgeglichener, solider ausfiel. Das war wohl vor allem ein Verdienst der engeren Kooperation zwischen Generalmusikdirektor Hans Zanotelli und den Streichern des Philharmonischen Orchesters Kiel, die sich hörbar auswirkte.

Auf dieser Grundlage konnten sich die anderen Orchestergruppen verläßlich entfalten. Gelegentlich blieb der Klang dabei allerdings noch zu kompakt: Gerade der Bereich des Piano, dem Beethoven mitunter ausdrücklich das „dolce“ hinzufügt, kam nicht ganz zu seinem Recht als kontrastierende Ebene der Klangstärke, vor allem in manchen Holzbläserpartien. Und so zuverlässig die Trompeten das gesamte Werk hindurch (wie auch die anderen Blechbläser) ihren Beitrag lei­steten, dominierten sie an den berühmten Kulminations- und Chaos­punkten des ersten und letzten Satzes doch zu stark, so daß sie die Mechanik des Ungeheuren übertönten, die Beethoven da in Gang setzte.

Sonst aber nahm man dankbar zur Kenntnis, daß viele Details sorgsam durchgeformt waren und sich in der Gunst der Stunde zum Ganzen fügten, wobei Hans Zanotelli, der von der dirigentischen Grundeinstellung her der Typus des unaufgeregten, auf interpreta­torische Mätzchen verzichtenden musikalischen Sachwalters ist, die notwendigen Impulse vermittelte. Sicherlich aber gab es noch Ver­besserungswürdiges wie manche Anschlüsse im Scherzo oder das ziemlich verwaschene Fugato im Finalsatz.

Nach kurzen rhythmischen Anlaufschwierigkeiten war auch der diesmal von Imre Sallay einstudierte Chor musikalisch eindringlicher Künder der (dem Text nach nicht immer optimal verständlichen) Freudenbotschaft und zeigte sich im Klang ausgeglichener als im Vorjahr. Weitgehend unverändert in der Zusammensetzung sang das Solistenquartett. Kurzfristig sprang allerdings Tibor Toth mit der Tenorpartie ein, wobei er in der Solostrophe durch unangestrengt-geradliniges Singen überzeugte, in den Soloensembles dagegen mehr Zurückhaltung hätte üben müssen. Gewohnt präsent, mit gleichsam vibrierendem, ja fast zu vibratoreichem Pathos eröffnete Hans Georg Ahrens (Baß) den vokalen Raum des Werkes. Frieda Lindburg (Sopran) meisterte eindrucksvoll die gesanglich-deklamatorischen Klippen ihrer Partie, und Janet Cobb (Mezzosopran) steuerte erneut stimmliche Präzision bei. Steigende Tendenz war also zu verzeichnen bei Zanotellis zweiter Kieler Interpretation der „Neunten“ — was die Hörer mit heftigem Beifall und zuletzt gar stehend honorierten. MICHAEL STRUCK

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