Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 03.01.1989

Alle Jahre wieder: Beethovens „Neunte“

Stark gefragt und stark gefeiert

„Alle Menschen werden Brüder“ stimmte natürlich nicht — jeden­falls nicht für alle, die das traditionelle Kieler Neujahrskonzert mit Beethovens 9. Sinfonie hören wollten: Der Konzertsaal im Schloß war wiederum ausverkauft, viele potentielle Besucher und wohl auch manche, die vor der Abendkasse noch hoffnungsvoll nach zurückge­henden Karten ausschauten, mußten sich — weinend oder auch nicht — aus diesem Bund der allzu vielen Interessenten stehlen. Ob sich nicht irgendwann (da die Veranstalter sicher so vernünftig sind, nicht mit einem Umzug in die Ostseehalle zu liebäugeln) die Notwendigkeit oder Möglichkeit zu einer Wiederholungsaufführung ergibt? Bei den regulären Abonnementskonzerten des Philharmonischen Orchesters hat sich das ja längst eingebürgert.

Konzentriertes Adagio
ohne falsche Feierlichkeit

Es gab keine grundsätzlichen, doch graduelle Unterschiede zur letzt­jährigen Darbietung, bei der ebenfalls Philharmonisches Orchester und Städtischer Chor (Einstudierung: Imre Sallay) unter Klauspeter Seibels Leitung Hauptträger des Geschehens gewesen waren. Da dürfen sich die Anmerkungen zum nachhaltig, schließlich sogar ste­hend gefeierten Konzert auf einzelnes beschränken. Heimlicher Höhepunkt war für mich diesmal der langsame Satz (Adagio molto e cantabile), der — ohne falsche Feierlichkeit — konzentriert, mit fein ausgearbeiteten Übergängen und einleuchtenden Unterscheidungen der verschiedenen Schichten im Partiturgefüge musiziert wurde. Die verschiedenen Charaktere kamen in diesem Doppelvariationen-Satz plausibel und ausdrucksvoll zur Geltung, und doch legte Seibel mit dem Orchester besonderen Wert auf Geschlossenheit, bevor zu Beginn des folgenden Finalsatzes das Chaos zu inszenieren war.

Spannungen zwischen
Fließen und Stocken

Mehr Gewicht als im Vorjahr hatte der Kopfsatz; er erschien jetzt weniger schneidig, dafür mit mehr Sinn für die Spannungen zwischen Fließen und Stocken angelegt. Manche Überleitungen hätten aller­dings flexibler abgestimmt, dynamische Entwicklungen sensibler aus­gearbeitet sein dürfen: Müßte nicht etwa in der Coda die chromati­sche Baßfigur, die da im Pianissimo in Gang gesetzt wird, tonloser, fahler unter dem Bläsermarsch beginnen? Aber hier ließen sich Verfei­nerungen der Aufführung wohl nur erreichen, wenn das anspruchsvol­le Werk bekommt, was es eigentlich fordert: mehr Probenzeit (die vielleicht je eher zu erkämpfen wäre, wenn es zur Jahreswende nicht bei der Einmal-Aufführung bliebe). Das gilt gerade auch fürs Scherzo. Sein Trio besaß in Seibels Sicht, durchaus überzeugend, eine Art Vorglanz des Finales, doch der Hauptteil „saß“, wie üblich, erst bei der Wiederkehr besser, ohne daß rhythmisch alles auf den Punkt gebracht war.

Das Finale wartete mit „sprechend“ ausgearbeiteten Rezitativen der tiefen Sstreicher auf; der Chor zeigte sich erneut von seiner guten Seite, befleißigte sich wiederum — selbst die Soprane in den Extremlagen ihrer Partie — einer guten oder jedenfalls möglichst guten Artikulation des Schiller-Textes. (Und es ist eigentlich nicht einzusehen, daß sich wieder einmal die Sopransolistin bei heiklen Spitzenpassagen über die Worte hinwegmogelt, die die Chorsoprane gleich darauf ebenfalls zu singen haben und tatsächlich singen!) Auch in diesem Satz aber ließe sich größere Detailgenauigkeit wohl nur durch intensivere Probenarbeit erreichen, so daß manches Forte nicht nur mächtig, sondern im Verhältnis von Chor und Orchester auch durchgeformt klänge, daß manche Situation nicht nur geistesgegen­wärtig bewältigt, sondern gelassen gemeistert würde.

Vokalsolisten mit
solider Präsenz

Daß die Vokalsolisten diesmal von Beginn der Aufführung an auf dem Podium saßen, tat dem Werk und seiner Wirkung nur gut und der sängerischen Leistung keinen Abbruch: Roar Wik war beim Einlei­tungsrezitativ sofort präsent mit schlanker, doch tragfähiger Höhe (und einwandfreierer Aussprache als in der folgenden Freude-Stro­phe). Moises Parker wählte für seine Solostrophe erfreulicherweise den goldenen Weg, der zackige Übertreibung ebenso mied wie Lässigkeit, sang mit lebendiger Bewegung; daß er von Chor und Orchester schließlich übertönt wurde, lag nur an diesen (und an Beethoven). Die Altpartie — sie ist im Solistenquartett ja am wenig­sten spektakulär — war bei Marita Dübbers gut aufgehoben, während Danuta Salska eher Emphase als durchsetzungsfähiges Leuchten einbrachte und beim sanften Flügel tonlich nicht ganz die geforderte Flughöhe erreichte.

Im Rahmen der organisatorischen Vorbedingungen durfte man also eine beifallswürdige Aufführung feiern — einträchtig, aber (siehe oben) exklusiv. MICHAEL STRUCK

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