Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 11.09.1989

Heute abend noch einmal im Kieler Schloß zu hören:

Ein Mahler, der so schnell nicht wiederkehrt

Klauspeter Seibel und seinen Musikern stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben: So wenig Publikum hatten die Kieler Philharmo­niker bei einer Spielzeiteröffnung wohl noch nie. Woran lag es? Daran, daß das Konzert außer Abonnement angeboten wurde, aber viele glaubten, es sei ausabonniert? Am frühen Termin? Gewiß nicht am Programm: Gustav Mahlers 3. Sinfonie d-Moll, morgen- und abend­füllend, ist ein großes, langes, wunderbares Stück Musik.

Trotz des Dämpfers zur Matinee-Stunde spürte man keine Resig­nation im Orchesterspiel. Im Gegenteil. Was die Arbeit am Kunstwerk anging, hätte der Einstieg in die Saison 1989/90 kaum lustvoller sein können — jetzt vom Zuhörer aus gesehen. Für die Wiederholung heute abend um 20 Uhr im Kieler Schloß gibt es noch viele Karten. Die Chance, dieser Sinfonie im Konzertsaal zu begegnen, kommt so schnell nicht wieder.

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Mahlers Dritte läßt sich als eine musikalische Kosmologie deuten. Wenn man dem folgt, was der Komponist selbst in erläuternden Äußerungen angedeutet hat, durchschreitet die Musik verschiedene Existenzbereiche.

Als Mahler einmal mit dem Dirigenten Bruno Walter im Schiff auf dem Attersee fuhr, sagte er angesichts des Höllengebirges: „Sie brauchen gar nicht mehr hinzusehen — das habe ich alles schon wegkomponiert.“

Fels, Steine, Mineralien bilden den ersten Kreis (Introduktion). Es folgt der Einzug des Lebens selbst (1. Satz) mit Pflanzen (Menuett), Tieren (Scherzo), Menschen (Alt-Solo). Und am Ende erscheinen Symbole der Transzendenz: Engel (Knaben- und Frauenchor) und — als Geist des Adagios sozusagen — die Liebe.

Doch gleichviel, wie man sich das Werk mitdenkend und mitemp­findend erschließt, es hält eine kaum zu erschöpfende Fülle von Details bereit, an denen sich die assoziative Phantasie festmachen kann — von Vogelstimmen bis zum Nietzsche-Text.

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Was am meisten auffällt an der Kieler Aufführung: ihre lichte, schöne Durchsichtigkeit. Sicherlich, die großen Steigerungen des ersten und des letzten Satzes sind kraftvoll ausmusiziert. Aber kennzeichnend ist eine geradezu berückende Ausgestaltung der Mahlerschen Vielstim­migkeit, so daß man — beispielsweise im Adagio — in zauberische Spiele und Widerspiele verwickelt wird. Espressive Instrumentalsoli und fesselnde dynamische Akzentuierung tun ihre Wirkung.

Tempo di Menuetto und Scherzando klingen duftig, anmutig, auch humorig, manchmal fratzenhaft. Da darf die große Trommel auch einmal mit dem Reisigbesen bearbeitet werden, lassen sich allerlei Naturlaute hören und bläst ein Posthorn seine träumerisch-roman­tische Melodie.

Die Hamburgerin Claudia Rüggeberg singt mit markantem Alt die Verse aus Nietzsches Zarathustra, eine Gestimmtheit tiefen Ernstes und Nachdenkens schaffend. Ganz unproblematisch kommt das Bimm-Bamm-Engelslied daher. Die Glockenstäbe schwingen auf der Empore. Die frischen Kinderstimmen und die sehr rein intonierenden Frauen von Städtischem und Opernchor finden sich zu einer gleichsam szenischen Episode voller Licht, bevor das Schluß-Adagio zur Höhe über dem „Gebirge“ führt: langsam, ruhevoll, empfunden — wie es in den Noten steht.

GMD Klauspeter Seibel hat einen vielversprechenden Anfang gesetzt. Der Beifall für sein Ensemble und seine Helfer Irene Lensky und Imre Sallay (Chöre), für die Solistin Claudia Rüggeberg und den nach vorn zitierten Solo-Trompeter Thomas Sheibels war am Sonntag­morgen überaus herzlich. ROLF GASKA

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