Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 03.01.1990

Eri Klas leitete die Neujahrsaufführung von Beethovens 9. Sinfonie im Kieler Schloß

Unüberhörbare Abnutzungserscheinungen

Jeder gewiefte Fernsehzuschauer weiß, daß es genügend beschwingte, leicht konsumierbare, neujahrsgeeignete Musik von Rang gibt. Muß es andererseits immer Beethovens Neunte sein, wenn man sich zum Jahreswechsel denn doch mehr als prickelnden Schwung, wenn man sich musikalisches Bildungsgut mit moralischem Aufforde­rungscharakter, Menschheits-Utopien gar, zu Gemüte führen will? Gibt es nicht eine Handvoll Bachscher Neujahrskantaten, könnte man sich anstelle der Neunten nicht auch eine Menge anderer repräsentativer und wohl auch attraktiver Werke zum festlichen Anlaß denken, die weniger bekannt sind — gehaltvolle Musik für Chor und Orchester et­wa von Mendelssohn, Schumann (der sogar ein Neujahrslied schrieb), Liszt, von Komponisten wie Max Bruch oder Stücken jüngeren Datums ganz zu schweigen.

Der Einwand, solche Werke benötigten doch unbedingt längere Vorbereitungszeit, kann nicht schwer wiegen — die 9. Sinfonie hätte sie ebenso nötig! Natürlich hört man sie beim Rückblick aufs vergan­gene Jahr mit besonderer Bewegung. Aber gerade weil die Neunte so oft als jährlich wieder aufgewärmte Gebrauchsmusik erklingt, erfährt sie — angesichts ihrer technischen und geistigen Anforderungen — auch überdurchschnittlich oft mittelmäßige und beklagenswerte Aufführungen.

Die diesjährige Kieler Aufführung mit dem Philharmonischen Orchester, dem Städtischen Chor sowie den Solisten Graciela von Gyldenfeld (Sopran), Marita Dübbers (Alt), Heinz Kruse (Tenor) und Matti Palm (Baß) widerlegte solchen Pessimismus nicht. Sie war sicherlich recht routiniert absolviert, aber doch eher gesellschaftliches als musikalisches Ereignis, in der Aufführungsqualität weniger befrie­digend als in den Vorjahren. Eine eingehende Interpretationskritik erübrigt sich da fast. Das lag nicht so sehr am Gastdirigenten, dem Tallinner Generalmusikdirektor Eri Klas. Er steuerte die Aufführung mit ziemlich unmißverständlicher Zeichengebung durch die 75 Minuten.

Daß es zahlreiche Unebenheiten im Zusammenspiel gab, daß vieles in der Wiedergabe zwar einigen Schwung hatte und doch im Ungefäh­ren verblieb, waren eher „systembedingte“ Abnutzungserscheinun­gen. Die Violinen gingen mit Klas zwar sehr willig und erfolgreich durch dick und dünn, aber sonst war nicht alles Gold, was glänzte (ersparen wir uns Aufzählungen). Erheblichen Widerstand stellte Klas außer seiner schlagtechnischen Solidität diesen Abnutzungserschei­nungen aber auch kaum entgegen in seiner recht wuchtigen Interpre­tation. Und über manche Auffassung konnte man zumindest geteilter Meinung sein: So zerfiel der alla-marcia-Teil des Finales in drei ver­schiedene Tempozonen — fürs Tenorsolo, das merklich beschleunigte und ziemlich heil durchschiffte Fugato und die anschließende Freude-Strophe —, wo sinnvollerweise ein Tempo durchzuhalten wäre. Seine Metronomziffer geht übrigens, wie man jüngst las, vielleicht auf einen Irrtum zurück, aber der Zusammenhang muß klargestellt sein.

Auch in der Koordination von Orchester und Chor — der von Imre Sallay gewissenhaft wie üblich präpariert worden war, aber nicht so stimmfrisch wirkte wie in den Vorjahren — kam dem Rezensenten manches seltsam vor.

Über all das kann man, wie der nachhaltige Applaus im ausver­kauften Kieler Schloß bewies, sicherlich neujahrsfroh hinweghören, man sollte es aber nicht, denn für die 9. Sinfonie genügt eine solche Aufführung — streng genommen und an anderen, intensiv vorbereite­ten Konzerten des Philharmonischen Orchesters gemessen — eigent­lich nicht. Auch im Solistenquartett gelang nicht alles nach Wunsch. Immerhin lassen sich Marita Dübbers, dem kurzfristig eingesprunge­nen Heinz Kruse (Hamburg) und dem mit Klas aus Tallinn angereisten Matti Palm stimmlich-textlich angemessene Leistungen bescheinigen. Einen Trost bot die abnutzungsgefährdete Gebrauchsaufführung: Im neuen Jahr kann‘s eigentlich nur besser werden. MICHAEL STRUCK

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