Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 15.04.1991

Kieler Sinfoniekonzert mit Werken von Prokofjew und Ravel

Spannende Entdeckungen

auf Seitenpfaden der Musik

Abermals führt ein musikalischer Seitenpfad zum Ziel. Seine Statio­nen: nicht ein Mozart-Werk im Mozart-Jahr, sondern ein vernachlässig­tes von Prokofjew zu dessen 100. Geburtstag, und statt Ravels — ohnehin selten aufgeführten — Sinfonischen Fragmenten aus Daphnis und Chloe die nahezu gänzlich verschüttete Choreographische Sinfo­nie in ihrem vollen Umfang. Die (mit Verlaub gesagt) „Pfadfinder“: Ein halber Konzertsaal voll engagierter Musikerinnen und Musiker unter GMD Klauspeter Seibels Leitung. Das Ergebnis: Ein spannender, anre­gender Sonntagvormittag mit erfrischenden Ein- und Ausblicken.

Warum Serge Prokofjews 1. Violinkonzert op. 19 im Musikbetrieb so stiefmütterlich behandelt wird, hat der Rezensent noch nie verstan­den. Freilich, das 1915—17 komponierte Werk bietet bei aller Virtuo­sität dem Solisten kaum typische Bravourgelegenheiten, eine Kadenz fehlt völlig, und die Umkehrung der Satzverhältnisse (langsam-schnell-langsam) wie die aufgelockerte Binnenstruktur mögen die Hörgewohnheiten irritieren. Aber was wird einem stattdessen gebo­ten? Ein atmosphärisch dichtes, klanglich äußerst reizvolles, ein in jeder Hinsicht originelles Gebilde.

Der Geiger Christian Altenburger macht dazu noch Hörangebote, die offenbar auch den Freund des klassischen Solokonzerts zu über­zeugen vermögen. Er ist ein offensiver Solist, dem aufgewühlte Expressivität näher liegt als der lyrische Ton oder gar die verinnerlich­te Geste. Altenburgs Stärke ist zweifellos, souverän über die techni­schen Abgründe hinwegzuspielen: Noch den heikelsten Passagen im furiosen Scherzo verhilft er mit stabilem, schönem Ton zu überzeugen­dem Ausdruck. Ihm gelingt es auch, die ellenlangen Tonleitersequen­zen im Schlußsatz, die sonst leicht ins Leere zu laufen drohen, mit Spannung aufzuladen und sie in den musikalischen Verlauf sinnvoll einzubinden.

Ein wenig neigt Altenburger aber mit seiner Heftigkeit zur Eindi­mensionalität, die Prokofjews Konzert nicht in jedem Fall gutzutun scheint. In den langsameren, ruhigeren Passagen wirkt er nämlich leicht etwas blaß — sofern er nicht auch sie auf die Ebene seines Stürmens und Drängens hievt. Dem Kieler Philharmonischen Orchester sind da ganz andere Töne abzulauschen. Klauspeter Seibel setzt auf ein feingliedriges, dezentes Geflecht von duftiger Eleganz. Gerade die leisen Töne, der untere dynamische Bereich, den der Solist vernach­lässigt, erscheint umsichtig disponiert und klanglich ausgewogen. Vehementer Applaus, keine Zugabe.

Wer im Publikum ein gutes musikalisches Gedächtnis hat, wird nach der Pause einiges von den Klängen wiedererkannt haben, die bei Prokofjew zu hören waren. Maurice Ravels Choreographische Sinfonie Daphnis und Chloe, als Ballettmusik für Diaghilews spektaku­läre russische Truppe fünf Jahre vor Prokofjews Violinkonzert entstan­den, kennt auch die komplizierten rhythmischen Verhältnisse aus dessen zweitem, die flirrenden Tremoli aus dem dritten Satz. Hier aber sind sie Bestandteile des großen epischen Zusammenhangs eines Handlungsballetts über die Liebe, gewaltsame Trennung und Wiederbegegnung der Titelfiguren. Nahezu eine Stunde lang entfaltet das zu gigantischen Ausmaßen verstärkte Philharmonische Orchester (allein neun Männer bedienen das Schlagwerk, darunter eine Wind­maschine) eine exotische, schwüle Atmosphäre, die zugleich befrem­det und verlockt. Hinzu kommt der Städtische Chor (Einstudierung Imre Sallay), der seine Beiträge treffend aus dem Orchesterklang heraus entwickelt, schmiegsam im „Sound“, aber präzise geführt.

Mit großer Sorgfalt leitet GMD Seibel zu klaren dynamischen Kontu­ren und hoher Präzision an. Immer auf’s Neue werden die suggestiv­sinnlichen Farben produziert und komplexe Rhythmen entfesselt (einige der Musiker sieht man — durchaus nachvollziehbar — zwi­schen ihren Einsätzen angestrengt mitzählen), und immer wieder bewähren sich die zahllosen Orchestersolisten. Als Fazit bleibt: Selten noch hatte man den Eindruck solchen Engagements, das sich an diesem schwerwiegenden Stück geradezu abarbeitete und schließlich mit verdient temperamentvollem Beifall aufgenommen wurde. THOMAS KAHLCKE

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