Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 03.06.1991

Rarität im Kieler Konzertsaal: „Das Buch mit sieben Siegeln“

Die Offenbarung des Franz Schmidt

Es ist ein mächtiges Werk, das jetzt in Kiel erklingt. Monumental wie sein Stoff, die Offenbarung des Johannes, deren visionäre Bilder bis in unsere Zeit zu vielerlei Exegesen Anlaß geben. Der Österreicher Franz Schmidt, in seiner Lebensspanne von 1876 bis 1939 ein geach­teter Musiker, Hochschullehrer und Komponist, deutete in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts die biblischen Prophezeiungen, wie er schrieb, vom Standpunkt des „tiefreligiösen Menschen und des Künstlers“ — mit dem Motiv, „diese beispiellose Dichtung…dem Hörer von heute innerlich nahezubringen“. Man wird Standpunkt und Motiv ernstnehmen müssen, wenn man über das Oratorium Das Buch mit sieben Siegeln urteilt.

Die Komposition hatte es schwer, sich durchzusetzen. Zwar wird berichtet, die Uraufführung am 15. Juni 1938 sei ein strahlender Erfolg gewesen, aber es heißt auch, die Nazis hätten Schmidt danach über­redet, eine Kantate mit dem Titel Deutsche Auferstehung zu schreiben, deren Skizzen von einem Schüler vollendet und unter Schmidts Namen aufgeführt wurden. Damit war er diskreditiert. Nur die Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, der Das Buch mit sieben Siegeln gewid­met ist, führte das Oratorium nach dem Krieg regelmäßig auf.

Will sagen: GMD Klauspeter Seibel, die Kieler Philharmoniker, Imre Sallays Städtischer Chor und fünf exzellente Solisten bieten die im Norden ziemlich einmalige Chance, ein außerordentliches Stück Musik kennenzulernen. Die erste Aufführung gestern morgen im Kieler Schloß (heute abend um 20 Uhr folgt eine zweite) fand, um dies vorwegzuschicken, ein aufmerksames und beeindrucktes Publikum.

Die vokale Seite spielt die größte Rolle. Die Partie des Johannes, weitläufig und anspruchsvoll, braucht einen kraftvollen Tenor, der zum Glück in dem Kieler Tristan Heinz Kruse zur Stelle ist. Sein strahlend-heldisches Timbre gibt uns einen Begriff vom Charisma des Prophe­ten, eines Künders und Herolds, und abgesehen davon, muß er ständig kleine Wunder der Intonation vollbringen. Marina Edelhagen (anstelle der erkrankten Graciela von Gyldenfeldt) und Gerda Kosbahn bringen ihre Stimmen solistisch wie im Ensemble makellos ein; sie kommen besonders im Duett der Hungernden (Mutter-Tochter) zur Geltung, dem sie erschütternden Ausdruck verleihen. Horst Gebhardts charakteristisch eingesetzter Tenor und Hans Georg Ahrens‘ sonorer Baß vermitteln im Gesang der „Überlebenden“ die fahle Stimmung des Leichenfelds, auf dem sie imaginär agieren. Ahrens ist auch, feierlich ernst, die „Stimme des Herrn“.

Doch neben Johannes gehört die umfangreichste Vokalpertie dem Chor. Zwar spürt und hört man gelegentlich, daß Sallays Sänger an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit operieren. Aber selbst ein pro­fessioneller Chor hätte mit manchen kontrapunktischen Rückungen und melodischen Diskontinuitäten seine Not — wieviel mehr dann ein Laienchor! Dennoch braucht es keine Entschuldigungen. Die kleinen Chor-Einschübe gelingen in Harmonie zum Ganzen, die großen Sätze — Krieg, Aufruhr im Himmel, Weltuntergang, Appell zum Jüngsten Gericht, das mächtige Halleluja — verlebendigen auf sehr eindrucks­volle Weise Schmidts Intention, das Visionäre Gegenwart werden zu lassen. Besonders schön: Nach dem himmelstürmenden Halleluja (Händel: ein Waisenknabe daneben) die Ruhe des gregorianischen Gesangs der Männerstimmen.

Effekte wußte er zu setzen, dieser Franz Schmidt. Die „heiligen“ Zwischenspiele der Orgel, von Kerstin Wolf mit rhythmischer Festigkeit gespielt, haben da ebenso ihre dramaturgisch eingesetzte Farbe wie das „im hochdramatischen Stil“ agierende Orchester, das zwar manchmal zurückgenommen wird auf die bloße Begleitfunktion, aber an entscheidender Stelle mit sehr sinnfälligen Klangfarben ins Geschehen eingreift, so, wenn die apokalyptischen Reiter auftreten, der rote Drache sich wälzt oder die Himmelskönigin erscheint. Tonmalerei wird ganz unbefangen betrieben, ebenso wie gewisse barocke Formeln wiederkehren.

Die Kieler Philharmoniker gehen mit Vehemenz in diese Aufgabe hinein. Vor allem die Blechbläser werden gefordert, wo es gilt, den Engeln Stimme zu geben. Da steckt viel gute Detailarbeit im Klangbild. Exaktheit und Musikalität auch im Holz und im Schlagzeug. Merkwür­dig, an die Streicher denkt man zuletzt. Sie figurieren mehr als Hinter­grund, mehr als Grundfarbe.

Klauspeter Seibel, der das alles zusammenhält, braucht für dies­mal die Schlagtechnik des Dirigiermeisters an der Akademie. Genauer können die Sänger auf der Empore wohl kaum instruiert werden. Und daß es so geht, wie es geht, verdankt sich nicht zuletzt der beharrli­chen Konzentration, die vom GMD ausstrahlt — neben der klugen Klangregie, die er dem Werk mitgibt. ROLF GASKA

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