Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 02.01.1992

Festlicher Auftakt des Kieler Jubiläumsjahres mit Beethovens Neunter in der Ostseehalle

Tut Freude so not wie Freiheit?

„Freiheit schöner Götterfunken“, so ließ Leonard Bernstein in Berlin singen, als die Mauer gefallen war. Der Enthusiasmus von damals ist abgeflaut, Schillers Ode hat wieder den altvertrauten Klang angenom­men: „Freude“ heißt es an der Stelle. Tut Freude so not wie Freiheit? Zum Stadtjubiläum zumindest scheint sie unentbehrlich. Der Kieler Oberbürgermeister faßte die Situation gestern abend vor schätzungs­weise 3000 Zuhörern so zusammen: „Es muß gefeiert werden!“ Gelächter im Publikum.

750 Jahre Kiel. Vom Dorf aus Holzhäusern zur geachteten Stadt: Justizminister Klaus Klingner, Überbringer von Glückwünschen der Landesregierung, schlug den raschen Bogen. Das Fest selbst, wenn es denn eines werden wird, nahm seinen Anfang mit der lange angekündigten Aufführung der 9. Sinfonie d-Moll, dem Neujahrsstück und Neujahrskonzert der Kieler Philharmoniker, die — verstärkt durch Tallinner Musiker und andere mehr — in der Sollbesetzung eines richtigen Landeshauptstadt-A-Orchesters antraten. Dazu hatten sich Chöre aus Helsinki und Tallinn eingefunden (wir stellen sie auf dieser Seite und im Lokalteil vor). Ein mächtig-festliches Bild war‘s in der Ostseehalle.

Was man akustisch zu erwarten hätte, ließ sich gar nicht voraus­sagen; denn zum erstenmal wurde bei einem Konzert mit klassischer Musik die Kopfbühne vor dem Haupteingang eingesetzt. Und siehe (höre) da, die Klangverhältnisse erwiesen sich zwar als etwas trocken, aber doch passabel, auch noch in der letzten Reihe des Parketts.

Sie troff wahrlich nicht von Pathos, diese Neunte. Klauspeter Seibel, der Kieler Generalmusikdirektor, warf sicherlich seinen ganzen Enthusiasmus hinein in diese Interpretation, die überdies durch ein illustres Solistenquartett geadelt wurde. Doch er blieb, wie es seine Art ist, der Genauigkeit und der Durchhörbarkeit der vier Sätze nichts schuldig. Man lauschte einem innerlich gespannten Musizieren, jen­seits der Pflichtübung: die Neunte zwar als Festmusik benutzt, aber auch als ein kühnes und außerordentliches Stück verstanden. Man wundert sich (nebenbei gesagt) immer wieder, wieviel die Nachfolger daraus gelernt haben: Schubert (vom Adagio), Brahms, Bruckner.

Bis es zum Finale kommt, dessen Kernmelodie alle Welt mitsingen kann, ging viel subtile musikalische Arbeit durch die instrumentalen Stimmen. Im ersten Satz mit seinem blitzgezackt hereinfahrenden Thema, seinen kämpferischen und beruhigten Zonen suchte Seibel Kontraste der Stärke und Stimmung herauszuarbeiten. Das Scherzo, in dessen unbeschwertem Trio Bläser brillieren dürfen, erhielt einen fröhlichen Vorwärtsdrang. Das wunderbare Adagio molto dirigierte Seibel anfangs eher eine Spur schneller als gewohnt (Bernstein beispielsweise ließ an dieser Stelle gleichsam die Zeit still stehen: extrem!). Doch hinderte dieses vielleicht etwas zu rasche Tempo in keiner Weise die Entfaltung der schon „romantischen“ Melodien und Klangfarben dieses Lied- und Variationensatzes, der — sehr ein­drucksvoll inszeniert — von Fanfaren durchbrochen wird: kriegeri­schen oder bloß aufmunternden, man kann es so oder so verstehen.

Das Finale schließlich. Heftig die Dissonanz des Anfangs, bei der alle Töne der Moll-Tonleiter auf einmal klingen, hochexpressiv das Rezitativ der tiefen Streicher, sehr leicht und schwingend die erste Andeutung der Freude-Melodie in den (auch sonst vorbildlichen) Holzbläsern. Als dann Franz Grundhebers mächtiger Baß einsetzte, „freudenvollere Töne“ fordernd, begann das vokale Feuerwerk der großen begeisternden Stimmen: Helen Donaths Sopran schwang sich über Chor und Orchester, kraftvoll setzte sich der Alt Cornelia Wulkopfs durch, Paul Frey schmetterte heldisch seine „Froh, wie deine Sonnen fliegen“, und Grundheber mischte sich ungestüm ein. Höhe­punkt dieses Quartetts: die strahlende Wendung „Alle Menschen werden Brüder“; Höhepunkt des gesamten Werks: das Aufblicken übers Sternenzelt — Dreiklänge, die sich hoch und höher schichten, Stimmen, die sich zu entmaterialisieren scheinen. Sehr weit weg war das vom Schluß des Werkes, der im entfesselten Jubelgesang der vereinten Chöre und des furios agierenden Orchesters wie ein Opern-Kehraus wirkte. Soll‘s so sein?

Langer Beifall danach. Ob er sich an gleicher Stelle bei gleicher Gelegenheit wiederholen wird, steht nicht so sehr in den Sternen wie im politischen Willen unserer Volksvertreter. ROLF GASKA

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