Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 01.06.1992

8. Philharmonisches Konzert im Kieler Schloß

Lauter Erstaufführungen

Wann hat es das schon einmal gegeben? Viermal steht im Pro­gramm des 8. Philharmonischen Konzerts der Vermerk Erstaufführung. Da kann man was lernen.

Nach Gründen und Zusammenhängen braucht man nicht zu suchen. Die Kieler Oper spielt Erich Wolfgang Korngolds Die tote Stadt, wozu paßt, daß im Konzertsaal seine späte und einzige Sinfonie in Fis op. 40 aufgeführt wird. Und zu den wichtigsten Lehrern und Zeitge­nossen Korngolds zählt Alexander Zemlinsky, so daß es zweimal sinn­voll ist, die beiden Komponisten zusammenzustellen. So geschehen durch GMD Klauspeter Seibel, der mit seinem Orchester und dem von Imre Sallay einstudierten Städtischen Chor die Entdeckerfreuden durch hohe musikalische Qualität adelt.

Zemlinsky zunächst. Er, dessen Leben mehr noch als sein Schaffen zwischen den Polen des Traditionalismus und der Avantgarde verlief, hat dreimal Psalmentexte vertont. Diese Chorwerke erklingen im Kieler Schloß alle drei, doch in umgekehrter Chronologie, das letzte (herausgegeben 1935, uraufgeführt 1971) zuerst, dann das mittlere (uraufgeführt 1910), schließlich das früheste (1900 geschrieben, uraufgeführt 1987).

Seibels Konzept erlaubt interessante stilistische Vergleiche. Man hört deutlich, was in 35 Jahren aufgegeben und was hinzugewonnen wurde. Zwar halten sich alle drei Kompositionen an eine psycholo­gisch-dramatische Textausdeutung, doch diese erscheint in jeweils veränderter Klangwelt.

Der 13. Psalm op.24 „Herr, wie lange willst du mein vergessen“ ent­faltet sich in einer imponierenden Strenge und Dichte des Ausdrucks, hinkomponiert auf den hymnischen Höhepunkt „Ich will dem Herren singen“, den der Städtische Chor mit Klangfülle und Enthusiasmus realisierte.

Der 23. Psalm op.14 „Der Herr ist mein Hirte“ scheint hingegen von malerisch-impressionistischen Klangvorstellungen bestimmt. Die Hirten-Thematik bringt gleich zu Anfang eine wunderschöne Pastoral-Stimmung hervor, die von einer zauberhaften Melodie der Chor-Sopra­ne weitergeführt wird, und obgleich die Wanderung des Psalmisten auch durchs finstere Tal führt, besteht die Musik fast durchgängig auf einer klanglichen Opulenz, die sie höchst anziehend macht: „...und schenkest mir voll ein“!

Der 83. Psalm (ohne Opuszahl) „Gott! Schweige doch nicht also“ nimmt oratorisch-theatralische Gesten auf. Nicht nur, daß Solisten auftreten, hier kompetent und wirksam besetzt mit Brigitte Lindner, Rachelle L. Perri, Christopher Scholl und Rainer Böddeker; nein, es geht auch hochdramatisch zu, und es werden in heftiger Attacke Feuer und Unwetter auf Gottes Feinde herunterbeschworen; denn so werden diese erkennen, „daß du mit deinem Namen heißest Herr allein, der Höchste in aller Welt!“ Für die Apotheose benutzt Zemlinsky eine gewaltig sich aufbauende Fuge, zu deren überredender Wucht auch die Orgel beiträgt. Ein gewaltiges Werk! Schön und gut, es kennen­zulernen; dazu — wie die vorhergehenden — in einer ebenso enga­gierten wie überzeugenden Interpretation, die vor allem den Chor mit schwierigen Intonationsaufgaben (Chromatik) forderte, doch nicht überforderte.

Korngold, so mag mancher empfinden, erreicht wohl doch nicht ganz die Höhe, die Zemlinsky vorgibt. In Korngolds Sinfonie in Fis op.40, komponiert in Hollywood, 1954 in Wien uraufgeführt, spürt man mit Leichtigkeit vertraute Klanggesten auf. Da klingt ein Bläserthema schon mal nach Richard Strauss, und beim schweren Moll des Adagio hat man sich zu entscheiden zwischen Grieg und Tschaikowsky.

Aber das wiederum ist nicht entscheidend; denn die Sinfonie überrascht mit einem Anfang von eigenwilliger Harmonik und Instru­mentation (Klarinette/ Streicherpizzikato/ Pauke); sie erweist sich im weiteren als außerordentlich „bildhaft“, indem sie die Stimmungen beschwört und Beleuchtungen wechselt; sie erfüllt traditionelle Erwartungen wie die Stürm- und Huscheffekte samt Seufzer-Trio im Scherzo, wie die schweifend-schmerzlichen Melodiebögen im Adagio, und sie läßt sich im Finale (wo Korngold eigene Film-Musik zitiert) ein heiteres spielerisches Feuer funkeln, an dem man seine Freude haben kann. Allerdings mag man sich an unnötig häufigen Wiederholungen stören und gelegentlich ein seltsames Ins-Leere-laufen konstatieren, als gebe es mitten im Satz keine Fortsetzung mehr.

Natürlich soll man diese Musik spielen. Ihr Traditionalismus ist ja gerade unter dem Aspekt der alles zulassenden und neubewerten­den Post-Moderne hochinteressant. Die Kieler Philharmoniker unter ihrem Chef setzen sich nachhaltig für das Werk ein, das sich keines­wegs leicht schenkt. Doch die rhythmischen Schwierigkeiten werden gemeistert, die Sätze wirken schlüssig, der Klang prägt sich charakte­ristisch ein. Viel Beifall, auch Bravo-Rufe am Sonntagmorgen. Wieder­holung heute abend 20 Uhr. ROLF GASKA

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