Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 03.01.1994

Die Neujahrs-„Neunte“ mit den Kieler Philharmonikern im Schloß

Viel Freude, wenig Vorgeschichte

Silvester feiern wir mit Sekt und Freddie Frinton, Neujahr begehen wir mit Aspirin und Ludwig van Beethoven. Dessen Neunte behebt garantiert jeden moralischen Kater, und darum lieben wir sie. Das einzige, was stört, sind die ersten drei Sätze.

Zugegeben: Das ist natürlich ein etwas rabiat zur Kenntlichkeit entstellter Blick auf das Neujahrskonzert der Kieler Philharmoniker. Der Vergleich zwischen Dinner for one und der Neunten hinkt beispiels­weise schon deshalb, weil sich eine Fernsehaufzeichnung besser konservieren läßt als eine alle Jahre wieder neu einzustudierende Aufführung. Das machte sich im Kieler Schloß ebenso bemerkbar wie jene etwas einseitige Liebe zum Jubelfinale, die Kiels GMD Klauspeter Seibel offenbar mit vielen Konzertgängern teilt. Und was die vorher­gehenden Silvesterfeiern angeht, so hatte der Rezensent den Ein­druck, daß die Bläser alles in allem etwas tiefer ins Glas geschaut haben als die Kollegen Streicher.

Aber nun im Ernst — beginnen wir da wo‘s am schönsten war: Beim Finale mit der Ode An die Freude, das ich lange nicht mehr so eindrucksvoll erlebt habe wie an diesem Neujahrstag. Jene zugleich eingängige und formal anspruchsvolle Oratorien-Dramaturgie, der die Neunte ihre unverwüstliche Festtagstauglichkeit verdankt, arbeitete Seibel grandios heraus. Mit dem Instinkt eines guten Regisseurs inszenierte er die Beziehung zwischen den Themen-Zitaten und dem musikalischen „Einspruch“ der Cello/Kontrabaß-Rezitative, die Jubel­chöre feuerte er zu hinreißendem Elan an, die Passage Ihr stürzt nieder, Millionen im „Seitensatz“ nahm er mit packendem deklamato­rischen Nachdruck.

Und dies waren eben nicht nur effektvolle „Momente“. Seibel machte die Architektur spürbar, die diesen Satz im Innersten zusam­menhält. Jene kleine Variationsfolge beispielsweise, die auf das erste Erklingen des Freude-Themas in den Celli und Kontrabässen folgt: Das klingt bei vielen Aufführungen ein wenig verlegen, wie eine Pflicht­übung, bevor das Freude-Thema endlich in seiner ganzen Herrlichkeit hervortreten darf. Nicht so hier: Seibel arbeitete in sinnfälliger Poly­phonie eine Entwicklungsfolge von bezwingender Schlüssigkeit her­aus, ein erstes Ausschöpfen des neuen Themas mit rein sinfonischen Mitteln, das dann konsequent in das gesungene Wort als neue Stufe dieser Entwicklung einmündete.

Dies alles wäre natürlich nicht möglich gewesen ohne ein Ensem­ble, das ausgezeichnet auf dem Posten war. Der Städtische Chor Kiel war von Frank Meiswinkel glänzend einstudiert worden und sang mit fesselnder Präsenz noch im rasantesten Tempo, mit leuchtender Höhe und drastischer Durchschlagskraft auch bei den oft ja ein wenig problematischen Männerstimmen. Das Orchester zeigte sich in diesem Finale von seiner allerbesten Seite, und die Solisten taten das ihre eindrucksvoll. Hans Georg Ahrens‘ O Freunde, nicht diese Töne! war ein wahres Donnerwort, das Freude-Thema kam ihm dann für meinen Geschmack ein wenig zu forciert aus der baßgewaltigen Kehle. Im Folgenden setzte sich Beate Bilandzija mit schlankem, in hellem Glanz erstrahlenden Sopran selbstbewußt an die Spitze des Solistenquar­tetts, Michael Rabsilber sang sein Tenorsolo (Froh, wie seine Sonnen fliegen) mit nicht gerade großer, aber stahlend klarer, gut geführter Stimme, und Gerda Kosbahn bewies im unauffälligen, aber schwieri­gen Alt-Part die ihr eigene Verläßlichkeit.

So weit, so gut. Mißt man nun aber das, was man da vorher gehört hatte, mit dem Maßstab, den Seibel selbst und die Seinen sich mit diesem maßgeschneiderten Finale setzten, dann klangen die ersten Sätze doch eher wie von der Stange musiziert: Nicht schlecht, aber auch nicht gut — eher ein wenig routiniert und gesichtslos. Da gab es schöne Momente, gewiß. Den zart durchlichteten, tastenden Beginn des Allegro ma non tropo beispielsweise oder die bezaubernde Ein­fühlsamkeit, mit der die Streicher die Themen des langsamen Satzes musizierten.

Nur — zum Ganzen fügte sich derlei nicht. Im Leisen und Feinen wirkten vor allem die Bläser oft unterbelichtet, im Dramatischen ging‘s recht pauschal zu. Gerade der erste Satz litt an dieser Indifferenz. und das ist, aufs Ganze gesehen, doch schade, eben weil diese Sinfonie ein Ganzes ist. Im großen Finale wird ja sozusagen all das unter neuen Vorzeichen wieder aufgegriffen, was in den vorherge­henden Sätzen unversöhnt stehengeblieben war. Von dieser Vorge­schichte des finalen Freudenjubels erfuhren die Zuhörer im Kieler Schloß aber nur wenig Tiefergehendes. DETLEF BRANDENBURG

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