Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 18.01.1993

4. Sinfoniekonzert der Kieler Philharmoniker unter Hanns-Martin Schneidt

Die musikalischen Freuden

der Walpurgisnacht

Das Kieler Philharmonische Orchester ist, seinem kränkenden B-Status zum Trotz, immer wieder gut für Experimente; und mit dem Überraschungsbonbon des 4. Sinfoniekonzerts war das Publikum ganz und gar einverstanden. Die 1. Walpurgisnacht, eine Art weltliches Oratorium von Felix Mendelssohn-Bartholdy, krönte gestern das Programm und wird zweifellos auch bei der heutigen Wiederholung Eindruck machen. Das gut eineinhalbstündige Werk erwies sich als ebenso unbekannt wie lohnend, denn was Mendelssohn aus Goethes Text gemacht hat, gab dem Orchester, drei Vokalsolisten und — vor allem! — dem Städtischen Chor glänzende Gelegenheit zu eindrucks­voller Präsentation.

Mit dramatischer Imaginationskraft ließ Mendelssohns Musik die Legende um die christianisierten Kelten, die ihren heidnischen Göttern nur mittels einer listig inszenierten Walpurgisnacht huldigen können, fast bildlich auferstehen. Machtvoll, aber gut austariert und lustvoll gesungen, zogen die Chorpassagen die volle Aufmerksamkeit auf sich. Mit feuriger Einsatzfreude ließen die durch Imre Sallay vorberei­teten Damen und Herren die gespenstische Szenerie musikalisch aufleben — da durfte schon einmal ein kleiner Schauer den Rücken hinunterlaufen!

Verdiente Begeisterung erntete Imre Sallay stellvertretend für seinen Chor, und auch die Solisten kamen in der Publikumsgunst nicht zu kurz: Marita Dübbers mit klangvoller Tiefe, Hans Georg Ahrens mit fast szenisch gestaltender Stimmkraft, und auch Karsten Ruß (obwohl sein Tenor eher durch Direktheit auffiel als durch geschmeidiges Einfügen in Mendelssohns Stil).

Rhythmisch packend und impulsiv ging auch das Orchester zu Werke, das von einem illustren Gastdirigenten geleitet wurde: Hanns-Martin Schneidt, künstlerisch primär in München beheimatet, trieb den Musikern mit Grunzen und Stampfen jede eventuelle Sonntagmorgen-Müdigkeit aus. Trotzdem wirkten die dem Mendelssohn vorausgehen­den Werke eher belanglos.

Beethovens Egmont-Ouvertüre besaß zwar Kraft und Volumen, verharrte aber träge im jeweiligen Augenblick; und auch Hindemiths Orchester-Suite aus der Ballettmusik Nobilissima Visione pendelte im „Verweile doch, du bist so schön“. Verführt durch die weit ausgebrei­teten, schier endlosen Klangflächen (in denen allerdings die stärksten Momente von Werk und Interpretation lagen) versäumte es Schneidt, den Ecken und Kanten von Hindemiths musikalischer Heiligenlegende um Franz von Assisi Profil zu verleihen. Mehr Gewicht legte er auf das cremig abgetönte, von lichtem Streicherklang veredelte Farbspektrum der Partitur; und die klangschöne Präzision der Flöten ließ aufhor­chen.

Gutes Material bietet das Kieler Orchester seinem Gastdirigenten allemal; daß sich die rechte Einsatzfreude letztlich aber am jeweiligen Stück entzündet, bewies überdeutlich Mendelssohns Walpurgisnacht: Denn hier herrschte nicht nur der Wille, gute Musik zu machen, son­dern aus jedem Takt funkelte zugleich auch die innere Beteiligung der Orchestermitglieder. Wie schön, daß gerade das „Experiment Men­delssohn“ so hieb- und stichfest überzeugte! KADJA GRÖNKE

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