Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 14.11.1994

Verdis „Messa da Requiem“ zum 75jährigen Jubiläum des Städtischen Chores Kiel

Musikdramatisch zur ewigen Ruhe

Die Feier ist geglückt. Und das ist beileibe keine Selbstverständ­lichkeit, wenn als Jubilar ein ganzer Chor firmiert, der selbst zum künstlerischen Gelingen beitragen muß. Kein Wunder also, daß gestern morgen die Spannung im Kieler Schloß knisterte: Verdis Messa da Requiem stand auf dem Programm, im Mittelpunkt des Interesses stand der Städtische Chor Kiel, der mit dieser Aufführung (sie wird heute abend wiederholt und ist total ausverkauft) und dem anschlie­ßenden Festempfang sein 75jähriges Jubiläum begeht. Und am Ende stand das Auditorium und spendete Beifall für eine packende Dar­stellung dieses effektvollen Erlösungsdramas.

Wie kaum ein anderes geistliches Chorwerk verlangt ja Verdis Requiem ein Glaubensbekenntnis auch vom Dirigenten. Zwischen verklärter Dezenz und effektvoller Operndramatik, belcanto-seliger Sentimentalität und lyrischer Keuschheit gibt es da viele Wege. Nun: die Dezenz ist so wenig Klauspeter Seibels Sache wie die Sentimen­talität. Mit beeindruckender Konsequenz sucht der Kieler GMD die Erlösung in der Musikdramatik: Im strukturellen Aufbau, den er durch gut ausbalancierte Lautstärkenverhältnisse darstellt; in der musika­li­schen Entwicklung, die er durch einfühlsame Kontraste und Übergän­ge faßlich macht. Es gibt da manchen Augenblick, bei dem man ver­weilen möchte, weil er so schön ist — aber man weiß stets, daß das nicht sein kann: Jederzeit ist spürbar, was Verdis musikalische Welt zusammenhält.

Und doch atmet die Musik, da ist wohldosierte Nachgiebigkeit in den Tempi — Seibel ist eben auch ein ausgezeichneter Sängerdiri­gent, der hier nun freilich drei wirklich ausgezeichnete Sänger zur Verfügung hat. Ich kann mich nicht erinnern, jemals bei einer Auf­führung des Verdi-Requiems eine so wunderbare Mezzosopranistin gehört zu haben wie Ruth-Maria Nicolay: Lupenrein ist ihr Timbre, schlank und biegsam der Stimmkörper, ohne je eng oder zu klein zu werden — eine dieser rätselhaften Stimmen, die noch im zartesten Piano weithin leuchten und selbst im heftigsten Forte nicht flackern. Ihr Pianissimo-Einsatz zu Beginn des Lux aeterna-Satzes beispiels­weise war ein schlichtweg atemberaubendes Musikereignis.

Und ihr Zusammenwirken mit Susan B. Anthony im Recordare Jesu pie war wohl einer der schönsten, innigsten Momente dieser Auffüh­rung. Da haben sich zwei Künstlerinnen in Zweieinigkeit gefunden: Auch Susan B. Anthony hat dieses herrliche Gespür für lyrischen Atem und krönt manches Ensemble mit subtilem Glanz. Nur daß ihr Sopran doch nicht ganz so rein und tragfähig in allen Registern ist. Harald Stamm spricht machtvolle Donnerworte, verfügt über des Basses Ausdruckskraft aber auch im Leisen: Sein Mors stupebit et natura war wahrlich von untergründig bebender Gewalt.

Da war es, gelinde gesagt, schade, daß inmitten dieser drei Klas­se-Solisten ein mit allen Unarten eines italienischen Opern-Haude­gens gesegneter Tenor am Wirken war: Giorgio Lamberti (als Ersatz für Latchezar Pravtchev). Daß sich bei ihm Kraft und rauhes Timbre nicht eben glücklich vereinen, wäre noch nicht das Schlimmste. Aber mit seiner ungenauen Attacke und der wackeligen Stimmführung trübte er die A-cappella-Ensembles der Solisten empfindlich. Und seine Neigung zur heftig gestemmten Emphase stand quer zu Seibels subtil ausbalanciertem Konzept.

Nun aber: Der Chor, der sich für dieses Großereignis Vertärkung vom Viktor-Vaszi-Chor aus Szeged in Ungarn geholt hatte. Fangen wir ganz oben an, bei den wunderbar klaren Sopranhöhen, oder ganz unten, bei den profunden F's oder E's der Bässe. Dazwischen haben alle Stimmen viel Substanz zu bieten. Chor-Höhepunkt war zweifellos die Libera me-Fuge, wo das polyphone Geschehen in klarer Linienfüh­rung durchgearbeitet war. Nicht ganz so prägnant kam die Vielstim­migkeit der Sanctus-Doppelfuge, was Seibel aber geschickt durch klare „vertikale“ Koordinierung auffing. Und — wie fast immer beim Verdi-Requiem: Am Tag des Zorns glänzten die Sänger durch welter­schütternde Kraftentfaltung.

Ehrlicherweise muß man vermelden, daß es am Sonntag eine Weile brauchte, bis sich das Riesenensemble zusammenfand. Und gegen ein paar mehr lupenreine Blechbläsereinsätze wäre durchaus nichts einzewenden gewesen. Ansonsten viel Gutes und Genaues von den Kieler Philharmonikern, vor allem von den Streichern, die manches Vor- oder Nachspiel intensiv mit Atmosphäre anreicherten.

DETLEF BRANDENBURG

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Siehe auch WOLFGANG BUTZLAFF

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