Kieler Nachrichten, 18.11.2013
Neue Hörerfahrungen im chiffren-Konzert: Das Laute in der Stille
Von Jörg Meyer
Kiel. Es ist dämmrig bis dunkel in der Halle 400, die Bühne ist leer, der Philharmonische Chor Kiel summt aus dem „Off“ der rückwärtigen Empore Morton Feldmans Rothko Chapel, in dem es um die mystisch-meditative Erfahrung geht, die Musik nah der Stille sein kann.
Zwei Stunden lang vermittelten am Freitag der Philharmonische Chor unter der Leitung von Barbara Kler und vier Schlagzeuger der Musikhochschule Lübeck sowie die Solisten Elisabeth Raßbach-Külz und Sina Siegmund (Sopran), Martina Mertinkat (Alt), Finn Fröhlich (Tenor) und Marie Yamanaka (Bratsche) im chiffren-Konzert ohne Pause das, was Morton Feldmann „abstrakte Erfahrung“ nannte, Musik als Transzendentes, als lautende Stille. Gerade der neuen Musik wohnt dieses scheinbare Paradoxon inne, wie das von chiffren gegründete Landesjugendensemble für neue Musik tags darauf auch beim „Länderspiel der Neuen Musik“ in Berlin zeigte, wo es als eines von sechs Landesensembles Hans-Joachim Hespos' im August in Kiel uraufgeführtes CON-fetti zu Gehör brachte. Mit beiden Konzerten bewies chiffren erneut, dass das schleswig-holsteinische Neue-Musik-Projekt an vorderster Front der zeitgenössischen Musik steht.
Gott sei alles und nichts zugleich, „das überlichte Dunkel“, das sich nur in kontemplativer Ekstase erfahren lasse, sagte im 5. Jahrhundert ein unbekannter Mystiker, der sich nach dem Athener Bischof Dionysios Areopagita benannte. Der Kieler Kirchenhistoriker Prof. Dr. Andreas Müller nimmt dies zum Anlass, um in seinem Einführungsvortrag über Musik und Transzendenz nachzusinnen. Praktisch lässt sich diese „ekstatische“ Erfahrung dann im Konzert machen. Im Wechsel mit Claude Viviers Cinc chansons pour percussion, die mit komplexen Rhythmen von Gongs und Glocken so etwas wie eine transzendierte Melodik erschaffen, zeigen die Kompositionen von Per Nørgård, wie Musik allein in changierenden Obertonspektren von Chor-Clustern und polyrhythmischem Schlagwerk entsteht. Der Philharmonische Chor fügt sich traumwandlerisch sicher in die diffizile Harmonik, die sich nicht nur den Sängern, sondern auch dem kontemplativ lauschenden Hörer unmittelbar erschließt. In der mehrdimensionalen Schichtung von Tönen und Klangfarben wird plötzlich das im Wortsinne „Ein-fache“ von Musik deutlich, einen mystisch-ekstatischen Zustand zu erzeugen.
Die Nähe zum mystischen Ritual beschwört Dieter Mack in seinem von der Musik Balis inspirierten Segara. Ein Werk, das trotz seiner sinfonisch verdichteten Klangvielfalt immer wieder dem Lauten der Stille nahekommt. Wo viel ist, nimmt das Nichts Gestalt an und umgekehrt. Dass die Stille lautend ist, wenn fast nicht zu hören ist außer einer leisen Bratschen-Kantilene und deren Widerhall im Chor-Gesumm und Pauken aus einem Zwischenreich, erweist sich bei Feldman,dem Höhe- und stillsten Punkt eines Konzerts, das Musik gemäß dem Leitspruch von chiffren ganz „neu erfahrbar“ macht. Minutenlanger Beifall setzt die Ekstase der Stille über sein Ende hinaus fort.