Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 23.05.2016

Imposante Leidenschaft

Max Regers Rarität „Die Nonnen“ im Mittel­punkt des 8. Philharmonischen Konzertes

VON MICHAEL STRUCK

KIEL. „Duale Systeme“ kennen wir von praxisbezogenen Studien­gängen und von der Mülltrennung: Gemeint ist eine Zweiheit aus Sich-Ergänzendem oder Gegensätzlichem. Im großartigen, anhaltend gefeierten 8. Philharmonischen Konzert Sonntagvormittag im Kieler Schloss konnte man meinen, dass die drei Werke des Programms – Johannes Brahms' Tragische Ouvertüre, Richard Strauss' Duett-Concertino für Klarinette und Fagott und Max Regers Die Nonnen für Chor und Orchester – ebenfalls „duale Systeme“ oder einen Teil davon bilden.

Die Tragische Ouvertüre op. 81ergänzt sich mit der Akademischen Festouvertüre op. 80 zu einem Ouvertüren-Doppel, bei dem, so Brahms, „Die eine weint, die andere lacht“. Auch dieser Komponist nutzte Ouvertüren dazu, die so drückend verpflichtende Sonatenform freier zu behandeln als in Symphonien – fast so frei wie ein Liszt in seinen Symphonischen Dichtungen, mit denen Brahms bekanntlich nicht viel im Sinn hatte. Selten hört man die Tragische so schlüssig wie unter GMD Georg Fritzschs Leitung. Ein durchgebildeter Brahms-Klang stand von der ersten Sekunde an, die Tempi waren stimmig (der Rückgang ins Grundtempo wurde allerdings hinausgezögert, bis es nicht mehr ging), die Soli betörten. Ein fulminanter Auftakt!

Im Duett-Concertino, dem Schwanengesang des 83-jährigen Strauss, ist die solistische Zweiheit die Voraussetzung des verführerisch überreifen, spielerisch melancholischen Werkes, dem man selten im Konzert begegnet. Klarinette und Fagott sind in Dialog, Streit und Zwiegesang auf höchstem Virtuositätsniveau tätig, parlieren und gestikulieren in reizendster spät-straussischer Weise. Gelegentlich mischt sich das kammermusikalisch gesplittete Orchester aus Streichern und Harfe ein. Den philharmonischen Solisten Ishay Lantner (Klarinette) und Riklef Döhl (Fagott) und dem Orchester gelang unter Fritzschs souveräner Leitung eine Interpretation , die Agilität, Spritzigkeit, sprechende Klarheit und tonalen Abendsonnenglanz fesselnd verband. Nur für Nanosekunden ahnte man, wie heikel die Partitur ist. Bravo!

Eine absolute Konzert-Rarität sind Regers 1909 entstandene Nonnen op. 112. Sechs Kieler Chöre (Schütz-Kantorei, Madrigalchor, Kieler Opernchor, Philharmonischer Chor, Probsteichor St. Nikolaus, Nikolaichor Kiel) waren von Adreas Koller, Friederike Woebken, Lam Tran Dinh, Werner Parecker und Volkmar Zehner so intensiv einstudiert worden, dass sie (verteilt auf Chorempore und Parkett-Seiten) als bemerkenswert homogenes Riesen-Ensemble Fabelhaftes leisteten. Fritzschs Stärke für groß besetzte Werke ist bekannt. Und wirklich bot er mit dem stark geforderten Orchester und dem – seinem Dirigat geradezu hypnotisch folgenden – Chor eine Aufführung, die nicht allein durch Masse, sondern auch durch agogische und klangliche Flexibilität überwältigte. Da schwanden alle Zweifel. Etwa an Martin Boelitz' reichlich verblasenem Text. Oder an der Frage, wie überzeugend die Dualität dieses Endzeit-Werkes ist. Das scheint einerseits mit brodelnder Chromatik die gewohnte Tonartlichkeit fast an die Wand zu fahren und könnte andererseits mit den Frauenchor-Episoden und ihrer rosenrot-verzückten Kirchentonarten-Aura leicht in historischen Kitsch umschlagen. Statt solcher Zweifel erregte die ernsthaft-leidenschaftliche Wiedergabe freilich nur eines: Dankbarkeit für einen imposanten Kieler Beitrag zum Reger-Jahr 2016.

Zuletzt geändert am 16.11.2015