Kieler Nachrichten, 07.05.2019
Attacke und Innigkeit
100 Jahre Philharmonischer Chor Kiel: Festkonzert mit Bruckner-Messe
VON CHRISTIAN STREHK
KIEL. „Feierlich“ steht gleich über dem Kyrie-Eröffnungssatz von Anton Bruckners eigenwillig gefärbter e-Moll-Messe. Und feierlich war auch die Stimmung vor, während und nach der Aufführung in der gut besuchten Kieler Nikolaikirche. Denn der Philharmonische Chor besteht als Oratorienverein und Städtischer Chor Kiel seit stolzen 100 Jahren. Und er klingt auch stolz und warm und kraftvoll, obwohl er inzwischen viel kleiner besetzt ist als bei seiner Gründung im Nachkriegsfrühling 1919 – oder als jener Linzer Riesenchor, den Bruckner bei der Uraufführung (übrigens mit endlos vielen Proben ...!) an der Hand hatte.
FOTO: MARCO EHRHARDT
Eine schöne Idee, das Mariengebet Tota pulchra es des in Oslo, London und New York ausgebildeten Norwegers und just 41-jährigen Geburtstagskinds Ola Gjeilo a cappella vorzuschalten. Von oben herab, nämlich von der Empore, schwebte das Neo-Renaissance-Stück stimmungsvoll prophetisch in Klangwolken über der Gemeinde. Denn auch Bruckner greift in seiner hochromantischen lateinischen Sakralmusik häufig weit in der Musikgeschichte zurück. Hier wie dort modelliert Chorleiter Lam Tran Dinh betont weichgeschwungene Linien, findet immer wieder zu einem kultivierten Piano- und Pianissimo-Klang zurück, so dass Passagen wie Kreuzigung und Grablegung im Credo oder das „Dona nobis pacem“ im Agnus Dei eindringlich innig gelingen.
Wie schwer und widerspenstig die Akkordfolgen Bruckners sein können, erlebt man in der an sich gut disponierten und erträglich lautstärkedezenten Bläserriege der Kieler Philharmoniker, wo eben auch nicht jeder Verlauf lupenrein gelingt. Aber manchmal entwickeln kleine Unsicherheiten im Chor sogar Ausdrucksstärke, wenn etwa die „Miserere“-Einwürfe im Gloria zaghaft beben. Und dass sich nach kraftraubenden Steigerungen das besonders heikle achtstimmige Sanctus mit seinen gefährlich absteigenden Linien verspannt, kann man auch auf mancher Profiaufnahme hören.
Insgesamt erscheint es allemal beachtlich, wie der Philharmonische Chor die hohen Hürden des gefürchteten, aber so wunderbaren Werks nimmt. Gerade die Frauenstimmen beweisen Stabilität. Und die Soprane bestehen lauthalse Höhenflüge mit leuchtender Attacke. Die nächsten 100 Jahre können kommen.