Kieler Nachrichten, 03.01.2023
VON CHRISTIAN STREHK
KIEL. Wenn ein Daniel Barenboim sich in Berlins Staatsoper mit Beethovens „Neunter Symphonie“ aus belastenden Krankheitsmonaten zurückmeldet, schwingt viel philosophierende Altersweisheit und düstere Dramatik im d-Moll-Gewebe mit. Kritikerkollegen vermuten gar, er habe in düsterer Zeit des Krieges am Ostrand Europas bewusst nicht zum unbeschwert optimistischen Götterfunken finden mögen – „ungewohnt langsam, fast suchend, tastend ...“.
Ganz anders der viel jüngere Generalmusikdirektor-Kollege in Kiel. Benjamin Reiners gelingt in der nahezu ausverkauften „Philharmonie in der Wunderina-Arena“ das Gegenbild: eine maximal optimistische Interpretation in Hochgefühl und Überschwang. 2023? Kopf hoch! Kann nur besser werden!
Das Publikum, mit knapp 1450 Häuptern sogar zahlreicher als in einem voll besetzten Kieler Schloss, lässt sich anstecken, spendet wie zu Beethovens Zeiten Applaus nach jedem Satz und jubiliert am Schluss mit dem funkensprühenden Finale um die Wette.
Der alle und alles mitreißende Vorwärtsdrang des Dirigenten wird schon in den ersten Sekunden deutlich. Da braut sich was zusammen, das gleich thematisch hochgeht – wie der Neujahrschampagner. In den ersten beiden Sätzen regieren Aufbruchsstimmung und, mutig orientiert an Beethovens enorm raschen Tempoempfehlungen, die Lust am Entdecken des Neuartigen, Unerhörten, Utopischen.
Im zweiten Satz erklingen, selten realisiert, alle von Beethoven vorgesehenen Wiederholungen. Langeweile kommt dabei nirgends auf, weil die rhythmischen Widerhaken (Pauke!) knackig gesetzt sind und die Trio-Kontrastteile endlich mal nicht verträumt ausgebremst, sondern genüsslich volksmusikalisch ausgetanzt werden. Das Adagio, der wunderschöne, aber gefürchtete dritte Satz, mag hier zu Anfang in sich noch etwas zu unruhig wirken. Aber Reiners zeigt Sinn für das geforderte „Cantabile“, für ein organisches Überfließen von einer Orchestergruppe zur nächsten. Und besonders das letzte Drittel enthält klanglich etliche sehr nobel ausgekostete Momente.
Überhaupt präsentieren sich die Kieler Philharmoniker in guter Verfassung, obwohl sie ständig am Rande des spieltechnisch Möglichen gefordert werden. Im Finale zeigt sich das Opernorchester, wo im Gespür für die dramatische Wirkung von Schreckensfanfare, Rückblenden, sonor raunenden Rezitativen und dem sprechend gestalteten Europahymne-Thema die wirkungsvolle Geste gegenüber allerletzter Präzision bevorzugt wird – zu Recht!
Reiners lässt alles auf die entfesselte Euphorie des berühmten Vokalfinales hintreiben – und bewahrt ihm dann überwiegend eine fröhliche Lockerheit. Das geht schon mit den Solisten los, die den Zumutungen Beethovens souverän mit vokaler Akrobatik begegnen.
Dem Bariton-Herold Samuel Chan mag es an den Phrasenenden an profunder Bass-Grundierung fehlen. Er punktet dafür in der Höhe. Der Mezzo Tatia Jibladze und der Tenor Christopher Diffey finden sich als muntere Mitgestalter in der Mittellage ins Schiller-Gefüge. Und Karola Sophia Schmidt setzt Sopran-Glanzlichter, wie sie nur mit viel Technik und ohne dramatischen Überdruck möglich sind. Ein sympatisch menschliches Quartett ohne Heldengezeter.
Ganz wunderbar bewältigen nicht zuletzt die von Gerald Krammer vereinigten Stimmen von Opernchor und Philharmonischem Chor ihre beschleunigte Partie, dynamisch flexibel, textbetont, freudig triumphierend. Das neue Jahr kann kommen.