Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 20.11.1989

Lothar Zagrosek dirigiert im Kieler Schloß
„Ein deutsches Requiem“

Ein wahres Juwel ist geglückt

Was für eine Aufführung! Musikalisch brillant, doch ohne Kälte. Durchgearbeitet, doch empfindungsstark. Mitreißend wie ein großes sinfonisches Werk, doch auch den religiösen Inhalt erschließend. Ergriffenheit war danach im Schloßsaal gestern vormittag, ein Augen­blick des Schweigens vor dem großen Beifall.

Kiel verdankt Lothar Zagrosek eine herausragende Interpretation des Deutschen Requiems von Johannes Brahms. Der ehemalige Chor­direktor der Bühnen der Landeshauptstadt, der heute in aller Welt als Dirigent Ansehen genießt, hat zusammen mit den Kieler Philharmo­nikern und dem von Imre Sallay vorbereiteten Städtischen Chor dem Werk neu nachgelauscht — abseits von der Routine der guten und schlechten Gewohnheiten.

Der Musikfreund ahnt und der Dirigent weiß, wie wichtig Anfänge sind, erste Takte, Eröffnungen. Bei Zagrosek beginnt das Requiem fast unhörbar, und der erste Melodiebogen (im dritten Takt) streckt sich mit einer winzigen Dehnung in das verlangte Espressivo hinein, das die Bratschen ausformulieren, bis es mit einer rauh betonten harmo­nischen Reibung in das leise und reine Selig sind des Chors mündet. Da hat man schon viele Qualitäten und Absichten beisammen:

- dynamische Genauigkeit, Aufgehen und sich Zurückziehen zum atembestimmten Zeitpunkt, sehr getreu übrigens der Partitur folgend;

- vorrangiger Wert der belebten Melodie, auch im mehrstimmigen Satz;

- Harmonie als ein Element von Spannung und Beruhigung, eingesetzt mit der Zartheit und der Kühnheit, die Brahms bereithält — Beispiele: die sanfte Tröstung des Ihr habt nun Traurigkeit auf der einen Seite, auf der anderen die harsche Heftigkeit der Fuge Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand, worin der Idee der Festigkeit, nämlich dem eiser­nen Orgelpunkt auf dem tiefen D, alle konventionelle Klangschönheit geopfert wird. Da packt Zagrosek zu, läßt uns wissen, wie modern Brahms dachte, als er das geistige Konzept über das populäre Hand­werk setzte und doch Meister blieb.

Die Aufführung insgesamt zeichnet ein übergreifendes Weiterdrän­gen aus, ein schwer beschreibbarer rhythmischer Impuls, den nur die besten Dirigenten in ihr Ensemble hineintragen. Wir hier in Schleswig-Holstein haben Leonard Bernstein als leibhaftiges Exempel für diese von innen her treibende Lebendigkeit („drive“ ist kein schlechtes Wort dafür, aber arg strapaziert) aus der Nähe kennengelernt.

Der Städtische Chor profitiert ganz offensichtlich von dieser Eigen­schaft des Gastes. Der Chor ist selten so wach, so elektrisiert gewe­sen: voll musikalischer Energie und reich an Ausdrucksschattierungen vom zartesten Piano bis zum dramatischen Fortissimo.

Nicht weniger überzeugend das Orchester. Zagrosek sagte im KN-Gespräch, er habe bei den Proben im hallig-leeren Schloßsaal große Probleme gehabt, instrumentale Ballance zu finden. Nun, im vollbesetzten Raum spürt man kaum mehr etwas von diesen Schwie­rigkeiten. Sogar eine kleine, oft untergehende Kostbarkeit wie das malerische Harfe-Flöte-Duo im zweiten Satz beglückt das Ohr — eben­so wie das keineswegs zu laute, hingegen leuchtende Blech und die höchst präsenten, differenzierenden Streicher.

Die Holländerin Annegeer Stumphius bringt für das Sopransolo eine klare Stimme mit, die der ungekünstelten Lyrik ihres Parts wohl ansteht. Der Bochumer Bariton Roland Hermann singt streng (in der Höhe auch angestrengt) wie ein Herold des Unabwendbaren die Requiem-Klage über die unerbittliche Vergänglichkeit des Lebens.

Die Aufführung, ein wirkliches Juwel in dieser Saison, wird heute abend wiederholt. ROLF GASKA

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