Kieler Nachrichten, 19.06.2023
VON CHRISTIAN STREHK
KIEL. Grimmelshausens barocker „Simplizissimus“ und Voltaires aufgeklärter „Candide“ sind Abenteuerromane des 17. und 18. Jahrhunderts, die leider so gar nichts an Aktualität eingebüßt haben. Die Menschheit hat über Jahrhunderte erschreckend wenig gelernt aus den Kriegen, aus Not und Vertreibung, Prostitution und Vetternwirtschaft.
Geradezu genüsslich hat Leonard Bernstein das in seiner Broadway-Operette „Candide“ vorgeführt, die jetzt in der (zumindest am Vormittag) doch noch gut besuchten Wunderino-Arena erstaunlicher Gegenstand des letzten Philharmonischen Konzertes der Saison war. Die Wahl fiel auf die letzte Werkfassung mit köstlichen Erzähler-Zwischentexten von Humor-Altmeister Vicco von Bülow.
Ganz wunderbar, wie Thomas Maria Peters diese bitterbösen Kommentare – wenn schon nicht auf dem Sofa, so doch aus dem Sessel heraus – abschoss wie vergiftete Pfeile. Die Loriot-Fassung schafft erstaunlich viel Ordnung im gewünschten Chaos der bereisten Länder. Abgründe, Liebeshändel, Religionsverirrungen und Persiflagen. Das Kopfkino kommt nirgendwo zum Stillstand.
Generalmusikdirektor Benjamin Reiners, gleichermaßen Bernstein- wie Loriot-Fan, nutzte am Pult sein gesamtes Repertoire an Bewegungs- und Animationsmustern, um in der gefeierten zweieinhalb Stunden-Aufführung Energien aufzuladen und zu entfesseln. Abgesehen von ein paar Stellen, wo Lenny etwas zu selbstverliebt kreiselnd in seinen eigenen Klangtypen badet, gelang das spannungsvoll.
Die Philharmoniker waren frech aufmuckende, aber wenn nötig auch sensible Partner. Eine Phalanx im Hintergrund: Die Heerschar der Choristen. Der spürbar positiv herausgeforderte Philharmonische Chor Kiel und die Opernchor-Profis, die für Klangpower und rhythmische Balance sorgten, wussten vom Choral über Oratorisches bis zu frivolen Banalitäten und brutalem Autodafé-Volksgeschrei ein großes stilistisches Spektrum abzudecken. Ein allzu menschlicher Höllenritt, den Gerald Krammer sehr gut einstudiert hatte.
Reiners konnte für die vielen im wahrsten Sinne unsterblichen Figuren auf einen optimalen Cast setzen. Maximilian Mayers lyrischer Tenor hatte vielleicht nicht die allerstabilste Präsenz im großen Raum, aber traf genau den empfindsamen Klagelied-Tonfall des erschrocken und erstaunt durch die keineswegs „beste aller möglichen Welten“ stolpernde Titelfigur.
Die isländische Sopranistin Bryndis Gudjonsdottir feuerte bravourös Koloratur- und Leuchtraketen in den künstlich geschaffenen Zuschauerraum – nicht nur im berühmten Feuerwerk von „Glitter And Be Gay“. Ihre Cunegonde war zugleich notorisch amoralische Leit- wie sympatische Herzensfigur. Enorm stark auch der Dr. Pangloss von Stefan Sevenich: Ein Bassbariton mit herrlich zwielichtiger Gentleman-Statur und entsprechend britischer Textattitüde.
Neben den ebenfalls bestens besetzten Johannes Gaubitz, Clara Fréjacques, Jona Böhm und einem Solistenquintett (Szymon Chojnacki, Gevorg Aperánts, Hankyul Lee, Minhong Ann und Konrad Furian) brachte Vera Egorova für die „Alte Lady“ genau die richtigen Portionen Mezzosopran-Opulenz und Spanien-Fake ein: „I am easily assimilated ...“.
Ein herrlich vorwitziger Vormittag also. Inklusive der Erkenntnis, dass Voltaire, Berstein und Loriot einfach so satirisch rausgehauen haben, was uns vor lauter politischer Korrektheit inzwischen ständig im Halse stecken bleibt ...